Lincoln Child: "Eden Inc."


Es war das erste Mal, dass Maureen Bowman den Säugling weinen hörte.
Anfangs war es ihr nicht einmal aufgefallen. Genau genommen hatte sie fünf, vielleicht sogar zehn Minuten gebraucht, um es überhaupt wahrzunehmen. Kurz bevor sie mit dem Abspülen des Frühstücksgeschirrs fertig wurde, hielt sie inne, um zu lauschen. Spülwasser tropfte ihr von den gelb behandschuhten Händen. Doch sie hatte sich nicht geirrt: Da weinte jemand. Es kam aus der Richtung des Hauses von den Thorpes.
Maureen spülte den letzten Teller ab, hüllte ihn ins feuchte Abtrockentuch und drehte ihn  nachdenklich in den Händen. Normalerweise wäre das Weinen eines Säuglings in ihrem Viertel unbemerkt geblieben. Geräusche dieser Art gehörten ebenso zur Vorstadt wie das Bimmeln von Eiswagen oder das Bellen von Hunden: Derlei entging dem Radar der bewussten Wahrnehmung.
Wieso also fiel es ihr auf? Maureen schob den Teller ins Trockengestell.
Weil der Säugling der Thorpes sonst nie weinte. An milden Sommertagen, wenn die Fenster sperrangelweit offen standen, hatte sie die Kleine oft vor sich hin brabbeln und lachen gehört. Manchmal hatte sie auch gehört, dass sie die Klänge klassischer Musik nachahmte, wie ihre Stimme sich im leisen Wind mit dem Duft der Pappeln vermischte. (Aus "Eden Inc.")

"Eden Incorporated" ist eine neuartige Art der Partnervermittlung, wie sie die Menschheit bisher noch nicht gesehen hat. In einem aufwändigen Verfahren, in dem medizinische, genetische, psychologische und soziologische Tests zum Tragen kommen, wird gegen eine fünfstellige Dollargebühr der Partner fürs Leben gefunden, wonach das Leben wirklich wie im Paradies sein soll. Und seit dem Bestehen hat die in New York ansässige Firma nur Positives zu vermelden. Besonders stolz sind die Mitarbeiter auf ihre sechs Superpaare - Menschen, bei denen sich eine hundertprozentige Übereinstimmung gefunden hat, also wirklich "perfekte Paare". Umso größer ist darum das Entsetzen, als eines dieser Superpaare, Lewis und Lindsay Thorpe, noch dazu gerade ein Elternpaar geworden, in seinem perfekten Haus Selbstmord begeht. Um eine Panik innerhalb der Belegschaft zu vermeiden - und auch wohl um einen etwas objektiveren Gesichtpunkt zu erlangen, wird der ehemalige FBI-Profiler und jetzige Psychotherapeut Dr. Christopher Lash damit beauftragt, herauszufinden, warum zwei über alle Maßen glückliche Menschen vor den Augen ihres Kindes aus dem Leben geschieden sind. 

Eine Untersuchung der Hintergründe der beiden Verstorbenen zeigt, dass es in ihren Persönlichkeiten, in ihren Leben und in ihren Umständen keinerlei Hinweise auf auch nur minimale suizidale Neigungen zu geben scheint. Darum beginnt Christopher in dem Auswahlprozess selbst die Antwort zu finden, wofür er selbst einen Antrag stellt um zu sehen, was die Aspiranten für eine glückliche Lebenspartnerschaft über sich ergehen lassen müssen. Im Zuge dessen erlebt er manche Überraschung und lernt auch eine Menge über sich selbst.

Neben diesen arbeitsbezogenen Problemen fällt es ihm kaum auf, dass von anderer Seite eine große Gefahr vor ihm aufwächst. Seine Konten scheinen nicht mehr die erwartete Deckung zu haben, seine Kreditkarten werden öfters als ungültig eingestuft, und zunächst verschwindet seine Post, bevor er einen Haufen zweifelhafter Zusendungen bekommt, mit überfälligen - auf seinen Namen ausgeschriebenen - Abo-Rechnungen. Bevor er auch nur beginnen kann, sich darum zu kümmern, begeht ein weiteres der Superpaare Selbstmord, und Christopher wird endlich in das Allerheiligste von Eden Inc. hineingelassen. Hier lernt er Richard Silver - den geistige und seelischen Vater "Edens" - kennen, sowie dessen andere Schöpfung die KI LISA, die maßgeblichen Anteil an dem Funktionieren des Verfahrens hat. Aber daneben scheint es auch eine Schlange in "Eden" zu geben, und auf der Suche nach dieser muss sich Christopher nicht nur mit seinem Fall, sondern auch mit seinen Gründen für das Verlassen des FBI auseinander setzen.

Eine komplexe technische Idee, mit weit reichenden soziologischen Folgen, die hier noch gar nicht sicher abzusehen sind und damit die Möglichkeit für einen Folgeband offen lassen. Insofern liegt hier ein SF-Roman vor. Aber "Eden Inc." ist gleichzeitig auch ein psychologischer Thriller, wie ihn sich jeder Krimifreund nur wünschen kann. Einige grundlegende Klischees des Technik-Thrillers werden bedient - wobei man sich gelegentlich fragt, ob das nicht an einigen Stellen übertrieben wird - genauso wie die regulären Momente der Tätersuche. Daneben gibt es aber auch immer wieder Szenen, in denen normale Lesererwartungen durchbrochen werden, was das Buch davor bewahrt gegen Ende in die Plattheit abzurutschen. Das Thema selbst  - "Eden Inc." als perfekte Partnervermittlung - ist alleine schon eine lesens- und bedenkenswerte Idee, besonders, wenn man über die im Buch gezeigten Konsequenzen hinaus denkt.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 04/2005)


Lincoln Child: "Eden Inc."
(Originaltitel "Death Match")
Übersetzt von Ronald M. Hahn.
Droemer, 2005. 510 Seiten.
ISBN 3-426-19633-6.

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Lincoln Child, ehemaliger Verlagslektor und Herausgeber von Anthologien, schrieb 1995 zusammen mit Douglas Preston den international erfolgreichen Wissenschaftsthriller "Relic". Seither setzt das Autorenduo seine einträgliche Zusammenarbeit fort.
Lien: https://www.prestonchild.com/default.htm.