Amit Chaudhuri: "Betörungen und fromme Lügen"
Importfertiggerichte aus dem Kühlregal
Amit Chaudhuri, 1962 in Kalkutta
geboren, in Bombay aufgewachsen, gab sein erzählerisches Debüt 1991. Seither
erhielt er zahlreiche Auszeichnungen wie den "Commonwealth Writers Prize" für
das beste Erstlingswerk, "A Strange and Sublime Address" (dt. "Eine
seltsame und erhabene Adresse"). Der in London und Oxford studierte Kritiker
und Romancier, nunmehr in Kalkutta ansässig, gilt als einer der bedeutendsten
zeitgenössischen Schriftsteller Indiens. Dass er somit gewissermaßen aus zwei
Perspektiven schreiben kann und dies in der Sprache der ehemaligen Kolonialmacht
tut, öffnet ihm den globalisierten Buchmarkt.
Ein Beobachter des
Lebens erzählt von der Symbiose von Mythen und Moderne
(...) Bald darauf ging ich nach
England. Manchmal fragte ich meine Mutter am Telefon: "Wie geht es Bishnu
Prasad Chakrabarty?" - so hieß Mastermoshai. Aber man hörte kaum noch von
ihm. Nachdem es offenbar immer wieder zu dummen kleinen Streitigkeiten
gekommen war, hatte er den Nachhilfeunterricht ganz aufgegeben und sich
ernsthaft auf das Speiseöl-Geschäft verlegt. Als ich das nächste Mal nach
Kalkutta kam, hätte ich mich gern mit ihm ausgesöhnt, doch niemand wusste,
wo er war; es hieß, er sei zu Ganesh gezogen, der jenseits der
Eisenbahnlinie lebte, bei den nomadischen Armen - Hausangestellten,
Fabrikarbeitern -, die dort in einer anderen Gesellschaft ein
anderes Leben führten. |
Leser seiner Werke schätzen
Chaudhuris atmosphärisch dichte, mitunter gezierte, zugleich kühle und
leise Beschreibungen des Daseins in den Metropolen Südindiens, während ihm
böse Zungen banale Belanglosigkeit ankreiden. "Man glaubt, den
Monsunregen auf der Haut zu spüren und die Gerüche aus den Garküchen am
Straßenrand aufzunehmen, wenn man Chaudhuris Erzählungen liest, die das
Leben in Kalkutta und Bombay einfangen", beteuert der Klappentext.
Nun, ganz so heftig kommt es nicht; der Leser bleibt auf sicherem Terrain
(und im Trockenen), denn die in "Betörungen und fromme Lügen"
geschilderten Begebenheiten sind so exotisch auch wieder nicht: Die
Protagonisten agieren im städtischen
Allerweltsobermittelschichtmilieu. |
Zwischen Globalisierung und kulturellem
Erbe, im Spannungsfeld damit einhergehender gesellschaftlicher Umbrüche
(Wertewandel, Geschlechterrollenklischees) ereignen sich oberflächliche
Wiederbegegnungen, eine zweite Hochzeit, innere und äußere Konflikte, werden
verdrängte Fehltritte, Lebenslügen, Erwerb von sogenanntem Wohlstand durch
Neureiche, Karriereverläufe, ein Cricket-Turnier, Kunst und Kommerzialisierung
erkundet.
Salman Rushdie
äußerte sich über Amit Chaudhuris Novellenband "Die Melodie der Freiheit"
folgendermaßen: "Es ist auf eindrucksvolle Weise unmöglich, Chaudhuris
gleichgültige, elliptische, schöne Prosa überhaupt irgendeiner Gattung zuzuordnen."
Wer möchte da widersprechen.
(Franka Reineke; 02/2006)
Amit Chaudhuri: "Betörungen und fromme
Lügen"
(Originaltitel "Real Time, Stories and a Reminiscence")
Aus dem
Englischen von Barbara Heller.
Karl Blessing Verlag, 2005. 256 Seiten.
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Weitere Bücher des
Autors:
"Ein Sommer in Kalkutta"
Auch in diesem Jahr ist es wieder soweit: Jayojit Chatterjee, genannt Joy, Dozent
für Wirtschaftswissenschaften an einer Universität im amerikanischen Mittelwesten,
besucht für einige Wochen seine
Eltern in Indien, zusammen mit seinem siebenjährigen
Sohn Bonny. Doch dieser Sommer im schwülheißen
Kalkutta
ist mehr als nur ein Höflichkeitsbesuch. Joy hat ein schweres Jahr hinter sich:
Seine Ehe mit der Bengalin Amala ist gescheitert und mittlerweile auch geschieden;
bis auf ein paar Wochen im Jahr lebt Bonny bei ihr in San Diego.
Joys Vater, ein Admiral außer Dienst, der
sich gerade von einem Schlaganfall erholt, und seine Mutter, eine
zurückhaltende, stille Frau, kennen weder die genauen Hintergründe der Scheidung
ihres Sohnes noch haben sie eine Vorstellung davon, wie sich sein Leben im
fernen Amerika gestaltet. Sie machen sich Sorgen um Joy, und doch ist der Besuch
von Sohn und Enkel ein großes Ereignis, auf das sie sich monatelang gefreut
haben ...
"Ein Sommer in Kalkutta" erzählt von Menschen, die sich scheinbar
in einer Art emotionalem und seelischem Stillstand befinden - einem
Schwebezustand, der es ihnen ermöglicht, wieder ein Stück weit zu sich selbst zu
kommen (wie Joy) oder auch einfach nur die begrenzte Zeit zu genießen, die sie
miteinander haben. Ob wir Bonny und seinem Vater bei einem Pingpongspiel
zusehen, sie auf einem Ausflug zum
Markt begleiten oder mit Joy einen Sari für
seine Mutter kaufen: Immer vermittelt sich gerade in den winzigsten Details eine
Vielfalt von zwischenmenschlichen Stimmungen, die Chaudhuri mit seismografischer
Feinheit aufzeichnet und in Bilder von großer poetischer Kraft fasst.
(Blessing)
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"Die Melodie der
Freiheit"
Drei Novellen. "17 Vivekananda Road, Kalkutta, Indien, Asien,
Erde, Sonnensystem, Universum" - diese "Seltsame und erhabene Adresse" (so der
Titel von Chaudhuris erster Novelle) trägt der kleine Abhi Das auf seinem
Schulranzen - sehr zum Staunen seines zehnjährigen Cousins Sandeep, der
alljährlich zusammen mit seiner Mutter bei Abhis Familie die Sommerferien
verbringt. Für die Kinder sind es Wochen des Entdeckens und des Faulseins,
geprägt vom ewig gleichen und doch immer wieder neuen Alltag in der großen
Familie und den schier unzähligen Räumen des Hauses, in dem sie lebt ...
Auch
in "Melodie der Freiheit" dreht sich alles um Familienbande, doch Chaudhuris
Perspektive hat sich auf die der Erwachsenen verlagert. Und nicht nur das: Wie
schon der Titel der Novelle andeutet, berührt er auch die gewaltigen politischen
und religiösen Konflikte, die den Subkontinent in den letzten Jahren erschüttert
haben. Es ist die Zeit der
Unruhen zwischen Hindus und Moslems, die in der
Zerstörung der Großen Moschee von Ayodhya ihren Höhepunkt fand, eine Zeit auch
der großen sozialen Spannungen, die durch Fabrikschließungen und das
Wiedererstarken der kommunistischen Bewegung geprägt ist ...
Deutlich
autobiografisch geprägt ist schließlich "Raga des Nachmittags", Chaudhuris
dritte Novelle. Nachdenklich und mit verhaltenem Humor schildert er darin die
Studienjahre eines jungen Bengalen in Oxford: seinen mühseligen Weg durch
Seminare und Prüfungen, das Gefühl, sich nur in einem Zustand des "Dazwischen"
zu befinden, der durch die Freundschaft mit anderen Indern bestenfalls gelindert
werden kann, seine wehmütigen Erinnerungen an ein Zuhause, das sich bei seinen
wenigen Besuchen in den Ferien mehr und mehr verändert. Fremde und Heimat - ein
spannungsreicher Kontrast, den Chaudhuri in zwei künstlerischen Welten
metaphorisiert: der Welt der Sprache (dafür stehen die Studien englischer
Klassiker und das fast besessene Sammeln von englischen Wörtern und Ausdrücken)
und der Welt der traditionellen indischen Musik, des Raga, als Sinnbild des
alten Indien. (Blessing)
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Noch ein
Buchtipp:
Michael Hensen: "Die Konstruktion der indischen Stadt im
zeitgenössischen indo-englischen Roman"
In Indien fand spätestens in den
1970er Jahren ein Paradigmenwechsel von einer dorf- zu einer stadtzentrierten
Kultur statt. Mit dieser Entwicklung einher ging ein rasanter Aufschwung
indo-englischer Romane in den 1980er und 1990er Jahren, die vornehmlich auf
urbanen Schauplätzen spielen. Die vorliegende Arbeit untersucht die jeweiligen
Konstruktionen der Textstädte in Romanen von Amit Chaudhuri, Anita Desai, Shashi
Deshpande, Sunetra Gupta, Salman Rushdie und Anderen. (Verlag Dr. Kovač)
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