Daniil Charms: "Zwischenfälle"

"Mich interessiert nur Quatsch, nur das, was gar keinen praktischen Sinn hat. Mich interessiert das Leben nur in seiner unsinnigen Erscheinung."

(Daniil Charms, Tagebuch 1937)


Viele, viele Jahre vor "Monty Python" hat Daniil Charms seine "Zwischenfälle" geschrieben. Übrigens handelt es sich bei "Charms" um eines von insgesamt etwa 30 Pseudonymen, die der Autor verwendet hat. Andere Beispiele für seine Verwandlungskünste: Prof. K. Schusterling, Trubotschkin (von russisch "trubka" - "Pfeife"), Chardame, Dandan, Toporyschkin (von russisch "topor" - "Axt"). Das Skurrile, scheinbar Sinnlose, sich makaber Verwandelnde waren Merkmale der Prosa dieses Genies der Selbstinszenierung. Wobei das Schreiben allein ihm nicht zur Ehre gereichte. Geboren wurde er als Daniil Iwanowitsch Juwatschow am 30. Dezember 1905 in St. Petersburg. Bald schon sollten sich seine Multi-Talente herausstellen. Er zeichnete hervorragend, war sehr musikalisch und seine Darbietungen als Zauberkünstler haben die Zuschauer verzückt. Eine traurige Parallele gibt es zwischen Juwatschow und Fjodor M. Dostojewski: Beide hatten sich "revolutionären" Organisationen angeschlossen und waren zum Tode verurteilt worden. Ebenso wie Dostojewski wurde Charms begnadigt und zu lebenslanger Haft verurteilt. Zwei Jahre verbrachte er in Fußketten im Straflager Sachalin. Bald danach war er Kapitän auf einem der ersten Schiffe, die Meereskarten bearbeiteten. Er unterhielt mit Tolstoi und Tschechow direkte Beziehungen, und seine didaktisch-religiösen Schriften waren ganz im Geiste der Tolstoianer verfasst.

In der Schule fiel Juwatschow nicht nur durch Streiche, sondern ebenso bereits durch die beschriebenen Talente auf. Er lernte außerdem perfekt Deutsch und Englisch. Später versuchte er sich als Student der Elektrotechnik und der Kunstgeschichte. Keines der Studien beendete er. Er trat bald als Rezitator und Interpret von Gedichten Blocks, Majakowskis, Assejews usw. auf. Sein geliebtes St. Petersburg (Leningrad) verließ er fast nie. Er schrieb wunderbare Kindergedichte und las diese sehr gerne dem Zielpublikum vor. Die Kinder hingen förmlich an seinen Lippen, und der Jubel zeigte sich auch nach außen. Er arbeitete fieberhaft, doch nur für die Schublade. Keine Zeile seines dichterischen und dramatischen Schaffens sowie seiner Prosa für Erwachsene sollte er je gedruckt sehen. Über seinen frühen Tod ist nichts Genaues bekannt. Es gibt zwei bekannte Versionen. Zum Einen soll er 1942 in einem Leningrader Gefängnis während der Blockade verhungert sein. Zum Anderen sei er noch vor der Blockade zusammen mit anderen Verhafteten aus Leningrad verlegt worden und im Februar 1942 im Gefängniskrankenhaus von Nowosibirsk gestorben.

Im März 1926 wurde Charms in den Leningrader Dichterverband aufgenommen. Noch im selben Jahr erschien erstmalig eines seiner Gedichte in dem Almanach des Verbandes. Zum Unterschied zu Tufanow, einem Futuristen und Autor von Lautpoesie, verfremdete er die Sprache nicht direkt. Er verwandelte das Wort, bewahrte aber dessen Sinn. Die Details sind bei ihm immer realistisch, nur die Verbindung dieser Details ergibt, der normalen Logik widersprechend, das Absurde. Im Sinne des Oberiu-Manifestes (die wesentliche Forderung von Oberiu war die Zusammenarbeit der verschiedenen Künste) galt Charms als zentrale Figur. Er war zugleich Dichter, Prosaiker, Dramatiker, spielte verschiedene Instrumente, zeichnete und war Zauberkünstler. Bei einer der ersten Veranstaltungen fiel seine Kleidung besonders auf: Karierter Gehrock mit einem roten Dreieck, runde goldfarbene Mütze mit Bändern, auf die bleiche Wange war ein grünes Hündchen gemalt. Grundsätzlich war Charms der perfekte Gentleman. Oft saß er stundenlang mit einem Pfeifchen im Mund still in irgendeiner Ecke, um dann plötzlich ohne Vorrede eine seiner berühmten Grotesken zu zitieren.

Überhaupt wirkte er unnahbar. Doch gleichzeitig strahlte er einen Zauber aus. Er sang in Gesellschaft gerne alte Soldatenlieder, englische Volkslieder usw. Oft wirkten seine Gesichtszüge äußerst finster. Die Kinder konnte er damit nicht täuschen. Sie waren stets verzaubert und liebten es, wenn er vorlas.

Charms hat kleine Skizzen geschaffen, die jede für sich gesehen etwas Vollkommenes an sich haben. Im Zusammenhang bilden sie ein in sich geschlossenes Universum, das von keinen äußeren Faktoren geblendet scheint. Das Eigenartige ist gerade, dass es keineswegs eigenartig wirkt. Einen besonderen Reiz für mich hat "Die Truhe". Beim Lesen dieser "Verrücktheit" kann sich der Leser an Gogol, Puschkin und Nabokov erinnert fühlen. Ein Mensch liegt in einer Truhe und glaubt, bald zu sterben, was er auch gar nicht verhindern will. Er wehrt sich nicht und weiß, dass der Tod stets das Leben besiegt. Doch plötzlich ist die Truhe nicht mehr da, als sei alles Einbildung gewesen. Die bedrückende conclusio: "Das heißt, das Leben hat mit einer mir unbekannten Methode den Tod besiegt." Der Tod, der Schlaf und seltsame Begegnungen sind die Hauptthemen in den "Zwischenfällen". Nicht selten handelt es sich um Begegnungen, die verschiedenste Menschen mit sich selbst haben. Der Aberwitz ist, dass aus alledem die (Ohn-)Macht des Lebens zu schreien scheint. In der Absurdität offenbaren sich menschliche Abgründe, die meist noch einen weiteren Boden haben, unter den sie fallen können. Nie kommt Gefahr einer eindimensionalen Betrachtung auf. Der Leser muss mitdenken und mitfühlen. Er kann den doppelten Boden unter der Truhe sehen, wenn er mag. Oder aber nur mitleiden und dabei vergessen, dass auch Nabokovs Held seine "Einladung zur Enthauptung" leicht verschieben konnte. Es ist so leicht, aus dieser Groteske auszubrechen. Allerdings bricht dann alles auseinander, und die Kulissen sind die Welt, welche neu gestaltet werden muss.

Leseprobe:

Fälle

Eines Tages aß Orlow zuviel Erbsenpüree und starb. Und Krylow, der davon hörte, starb auch. Und Spiridonow starb von allein. Und Spiridonows Frau fiel vom Büffet und starb auch. Und Spiridonows Kinder ertranken im Teich. Und Spiridonows Großmutter geriet an die Flasche und wurde Landstreicherin. Und Michailow hörte auf, sich zu kämmen, und bekam die Räude. Und Kruglow malte eine Dame mit einer Knute in der Hand und wurde verrückt. Und Perechrjostow erhielt telegrafisch vierhundert Rubel und wurde so hochnäsig, dass er aus dem Dienst flog.
Alles gute Menschen, die nicht Fuß fassen können.

(22. August 1936)

 (Jürgen Heimlich; 02/2003)


Daniil Charms: "Zwischenfälle"
Mit Zeichnungen des Autors.
Herausgegeben von Lola Debüser.
Aus dem Russischen von Ilse Tschörtner.
Luchterhand, 2003. 384 Seiten.
ISBN 3-630-62049-3.
ca. EUR 11,-
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