Veza Canetti: "Geduld bringt Rosen"


Im Blickpunkt der Erzählungen stehen die namenlosen und übersehenen Menschen im Wien der frühen 1930er-Jahre

Veza Canetti, geborene Venetiana Taubner-Calderon, kam  ohne linken Unterarm (die Hand befand sich am Ellenbogen) am 21. November 1897 in Wien zur Welt. Das körperliche Gebrechen galt zeitlebens als Tabu. 1934 heiratete sie Elias Canetti (25.7.1905-14.8.1994; Hauptwerke: Roman "Die Blendung", Essay "Masse und Macht"; Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1981). Veza Canetti publizierte unter verschiedenen Pseudonymen (Veza Magd, Veronika Knecht, Martha Murner) ab Anfang der 1930er-Jahre Texte in Zeitungen (bspw. der Wiener "Arbeiter-Zeitung"), die wirtschaftliche Not, Arbeitslosigkeit, Machtverhältnisse und Gewalt in der Familie thematisierten.
Nach 1934 gab es für die Jüdin und Sozialistin Veza Canetti keine Publikationsmöglichkeiten mehr.
1938, nach dem "Anschluss" Österreichs, emigrierten die Canettis nach Paris, später nach London.
In den folgenden Jahren stellte Veza Canetti ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit offenbar zugunsten der Finanzierung des Lebensunterhalts sowie der Unterstützung der Arbeit ihres Mannes zurück; über den Gedankenaustausch und das Konkurrenzverhältnis der schreibenden Eheleute gibt es zahlreiche Spekulationen. Im Jahr 1956 soll Veza Canetti viele ihrer Manuskripte vernichtet haben.
Sie starb am 1. Mai 1963 im Londoner Exil.

Erst nachdem Elias Canetti, der Affären, u.A. mit den Schriftstellerinnen Iris Murdoch und Friedl Benedikt (Pseudonym: Anna Sebastian; 1916-1953) unterhalten und 1971 erneut geheiratet hatte (Hera Buschor; der Ehe entstammt die 1972 geborene Tochter Johanna), 1994 in Zürich gestorben war, wurden Veza Canettis Werke posthum "wiederentdeckt" und traten endlich aus dem Schatten des Nobelpreisträgers hervor.
Iris Murdochs Ehemann, der Literaturwissenschaftler John Bayley, hielt in seinen Erinnerungen (Titel "Elegie für Iris") fest: "Bevor ich Iris heiratete lebte ich in der Angst, dass Canetti sie wie Pluto in seine dunkle Unterwelt davontragen könnte", und er nannte Elias Canetti "Das Monster von Hampstead".

Im vorliegenden Band, der zwischen 1932 und 1934 in der Wiener "Arbeiter-Zeitung" veröffentlichte Geschichten aus der Feder Veza Canettis versammelt, wird die Lebenswirklichkeit der "kleinen Leute" im Wien der frühen 1930er-Jahre nüchtern und einfühlsam zugleich abgebildet.
Es sind die unscheinbaren, stillen Menschen, die Veza Canetti in den Mittelpunkt stellt. Sei es beispielsweise der Angestellte Mäusle, der die Veruntreuung von Lohngeldern durch den Sohn des Chefs aufdeckt und schließlich seinen Arbeitsplatz verliert, oder die tüchtige junge Arbeiterin Anna, die entlassen wird, weil sie dem Chef für ein Abenteuer nicht hübsch genug und überhaupt zu minder ist, oder eine Putzfrau, die sich in Lebensgefahr begibt, indem sie Aktivisten des Februaraufstands 1934 versteckt.

Veza Canetti schildert Schicksale von Rechtlosen, die der Willkür anderer Menschen hilflos ausgeliefert, von diesen materiell abhängig und Demütigungen ausgesetzt sind. Sie leuchtet in "Alltagsgeschichten" Standesdünkel und Klassenunterschiede aus.
Ihre Erzählungen  sind politisch engagierte sozialkritische Milieureportagen von literarischer Qualität.

(Franka Reineke)


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Weitere Werke der Autorin:

"Die Gelbe Straße"

"Es ist eine merkwürdige Straße, die Gelbe Straße. Es wohnen da Krüppel, Mondsüchtige, Verrückte, Verzweifelte und Satte."
Die Gelbe Straße ist die Straße der Lederhändler in der Wiener Leopoldstadt, Anfang der 1930er Jahre. Da ist die Trafik, wo es Tabak und Zeitungen gibt und Tratsch ausgetauscht wird - neidisch, missgünstig, lüstern; die Stellenagentur, in der Mädchen aus der Provinz als Ware an zwielichtige Kunden verhökert werden; das Kaffeehaus, in dem Männer darauf aus sind, "Weiber" zu fangen und eine verarmte Bürgersfrau und eine abgetakelte Sängerin ihr Brot zu verdienen suchen; der Wohltätigkeitsverein, dessen Heuchelei die Waisenkinder durchschauen; und die Seifenhandlung, deren verkrüppelte Besitzerin die Straße zu beherrschen sucht.
Veza Canetti erzählt voll zärtlicher und bissiger Anteilnahme und Humor von diesen kleinen Geschäftemachern, verarmten Bürgern, hilflosen Frauen und durch das Elend schlau gewordenen Kindern, die um ihre Existenz kämpfen - mit List und Unterwürfigkeit und mit der Gier nach Geld und Macht, die aber auch ihre Würde zu verteidigen wissen. Es ist die unheimliche Zeit der verfallenden moralischen Werte, der Arbeitslosigkeit und der Verzweiflung, es ist der Untergrund der heraufziehenden politischen Katastrophe.
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"Der Fund. Erzählungen und Stücke"
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Weitere Buchtipps:

Angelika Schedel: "Sozialismus und Psychoanalyse. Quellen von Veza Canettis literarischen Utopien"

Fast 60 Jahre war das Werk der österreichischen Schriftstellerin, Jüdin und Sozialistin Veza Canetti verschollen, und erst 1990 begann man - mit der Publikation des Romans "Die Gelbe Straße" - ihre Texte aus den 30er bis 50er Jahren wiederzuentdecken, die seit Herbst 2001 der Öffentlichkeit komplett vorliegen. Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem zumeist (frauen)politisch engagierten Prosa- und Dramenwerk war dabei von Anfang an auch eine Debatte um die Umstände seines Verschwindens und die Rolle, die der Ehemann, der Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti, bei Entstehung wie Vergessen gespielt haben könnte.
Vor solchem Hintergrund analysiert diese Arbeit Veza Canettis literarisches Werk aufgrund seiner zentralen philosophischen und weltanschaulichen Quellen und deren Protagonisten. Berücksichtigt werden zum einen die Schriften Wilhelm Reichs, der von marxistischer Seite die Thesen Sigmund Freuds revidierte, zum anderen die Schriften von Lou Andreas-Salomé, ebenfalls einer Anhängerin Freuds, die freilich sehr früh dessen Theorie feministisch umdeutete.
Der Einfluss der für Veza Canetti so maßgeblichen Autoren wird an vieren ihrer Texte exemplarisch analysiert: an ihrem Roman "Die Gelbe Straße", am Drama "Der Oger" und an den beiden erst jüngst wiederentdeckten und bislang unbeachtet gebliebenen Erzählungen "Die Große" und "Der Dichter".
Im ausführlichen Anhang der Arbeit wird der Versuch unternommen, mit Hilfe der heute zugänglichen Quellen die Biografie Veza Canettis zu schreiben - und damit über weite Strecken die Biografie des Lebens mit dem Schriftsteller Elias Canetti, hinter dessen Werk und Erfolg seine Ehefrau nach der Flucht ins Exil und bei nachlassendem Interesse für ihre eigenen Arbeiten zunehmend verschwand. (Königshausen & Neumann)
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Elias Canetti: "Party im Blitz. Die englischen Jahre"
Ein unverblümter Text über seine Jahre in England, den sich Canetti nicht zu veröffentlichen traute: über verarmende Adlige und wirklich arme Emigranten, über eitle Dichter und schöne Malerinnen und über seine Liaison mit der später berühmten Autorin Iris Murdoch. Mit dem Nachwort des Londoner Literaturwissenschaftlers Jeremy Adler und Fotografien aus der Zeit ein wichtiges Stück zu Canettis Autobiografie.
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Iris Murdoch: "Die Flucht vor dem Zauberer"
In diesem Schlüsselroman aus dem Jahr 1956, der nicht ohne Grund Elias Canetti gewidmet ist, erzählt Iris Murdoch von einem Mann, dessen unheilvoller Faszination sich kaum jemand entziehen kann. Drei Frauen sind es, die in "Die Flucht vor dem Zauberer" dem Charme des Zeitungskönigs Mischa Fox erliegen: Die 18-jährige Diplomatentochter Annette Cockeyne, die vor allem in der Liebe erfahrene Sirene Rose Keepe und die kleine duldsame Schneiderin Nina. Doch Mischa Fox, der große Verzauberer seiner Umwelt, ist selbst einem Bann ausgeliefert: den Stimmen und Zeichen, die unaufhörlich in sein Bewusstsein dringen.
Iris Murdoch wurde am 15. Juli 1919 geboren. Sie studierte klassische Philologie in Oxford und Philosophie in Cambridge. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete sie für das britische Schatzamt und dann für die Flüchtlingshilfe der Vereinten Nationen. 1948 kehrte sie nach Oxford zurück, wo sie am St. Anne's College unterrichtete. Sie war Ehrenmitglied der American Academy of Arts and Letters und wurde 1987 von Elizabeth II. in den Adelsstand erhoben. Iris Murdoch litt an der Alzheimer-Krankheit; sie starb am 8. Februar 1999.
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Anna Sebastian (Friedl Benedikt): "Das Monster"
Die 1939 aus Wien emigrierte "Schülerin Canettis" schrieb diesen 1944 in England erschienenen, in englischer Sprache verfassten Roman um den Staubsaugervertreter (das Haushaltsgerät heißt übrigens "Tantalus") Jonathan Crisp, der an vielen Haustüren abgewimmelt wird, darob größenwahnsinnige Rache- und Allmachtsfantasien entwickelt und nach Genuss des Staubsaugerbeutelinhalts tatsächlich zum gottgleichen Diktator mutiert, der seine Mitmenschen unterjocht. Das Buch endet wie folgt: "'Knie nieder und bete zu deinem Gott!' befahl Mr. Crisp. Kate warf sich mit einem Schrei des Entzückens vor ihm auf den Boden."
Friedl Benedikts ebenso eindringlicher wie grotesker Roman, der den Totalitarismus auf surrealer Ebene abhandelt und Bezug auf Hitlerdeutschland nimmt, besticht durch satirischen Blick und Sinn für Komik. "Das Monster" erschien im Jahr 2004 in der Edition Memoria erstmals auf Deutsch.
Anna Sebastian erlag im Alter von 37 Jahren in Paris einem Krebsleiden.
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