Andrea Camilleri: "Die Passion des stillen Rächers"
Commissario Montalbano stößt an seine Grenzen
Bei
der Lösung seines letzten Falles ist Commissario Salvo
Montalbano durch Schüsse schwer verletzt worden. Seine
langjährige "Fernbeziehung" Livia hat Urlaub genommen und ist
nach Vigata gekommen, um ihren Salvo zu pflegen. Der lässt
sich das auch wohl gefallen, zumal diese Verletzung ihn sehr
mitgenommen hat. Wer an die Grenze des Lebens kommt, sieht alles in
einem etwas anderen Licht. Und so kommt Montalbano im neuesten Buch
seines mittlerweile über 80-jährigen literarischen
Schöpfers Andrea Camilleri nachdenklich und regelrecht
philosophisch daher.
Er ist noch krank geschrieben, gerade einmal vor einer Woche aus dem
Krankenhaus entlassen, als ihn ein Anruf aus dem Kommissariat von
seinem Krankenlager aufschreckt. Catarella erklärt ihm in
seiner üblichen, den Leser jedes Mal aufs Neue ins Schmunzeln
bringende Art, ein Mädchen sei verschwunden.
Auf einer einsamen Landstraße, so stellt sich heraus, wurde
der Motorroller von Susanna Mistrella gefunden, der Tochter einer
angesehenen und einstmals auch wohlhabenden Familie. Ihr Vater, der
ehemalige, weitgereiste Geologe Salvatore Mistrella, hat sofort eine
Vermisstenanzeige erstattet und geht von einer Entführung aus.
Auch der Freund des Mädchens, Francesco Lipari, wird
verhört, doch schnell ist klar, dass er mit der ganzen Sache
nichts zu tun hat.
Dottor Minutolo wird mit der Leitung der Untersuchung beauftragt, und
Montalbano soll ihm zuarbeiten, so gut er krankheitshalber kann. Da er
sich mit diesem Kollegen trefflich versteht, geht das auch für
Montalbanos Verhältnisse erstaunlich gut.
Signora Mistrella ist todkrank, seit sechs Jahren ans Bett gefesselt.
Ihr Schwager ist Arzt im benachbarten Ort und behandelt sie. Von ihm
erfährt Montalbano, dass es sich bei der Krankheit von
Susannas Mutter um eine schwere, wohl tödliche Depression
handelt. Susanna hat sie über Jahre aufopfernd gepflegt, und
so liegt zunächst die Vermutung nahe, sie habe vor dieser
großen Verantwortung und Last die Flucht ergriffen.
Doch als sich die Entführer melden und ein Lösegeld
von sechs Milliarden (Lire!) verlangen, ist klar: Susanna ist
verschwunden und befindet sich in fremder Gewalt. Junge Leute werden es
nicht gerade sein, vermutet der Commissario, sonst hätten sie
ihre Lösegeldforderung nicht so formuliert. Weiter
kommt er aber zu diesem Zeitpunkt auch nicht. Über die beiden
verfeindeten lokalen Fernsehsender, die man aus den anderen
Büchern gut kennt, versuchen die Entführer, die
Öffentlichkeit mit Bildern von Susanna zu mobilisieren. Denn
jedermann weiß, dass die Familie Mistrella mittellos ist,
seit sie vor sechs (!) Jahren alles verkauft hat, um einem Verwandten
namens Peruzzo aus der Klemme zu helfen. Peruzzo zahlte das Geld nie
zurück und versucht gerade eine politische Karriere zu
starten, kann deshalb keine schlechten Nachrichten über seine
Person vertragen. Die Absicht der Entführer ist
erfolgreich: der Druck auf Peruzzo wird so stark, dass er zu zahlen
bereit ist. Doch als die offizielle Übergabe des Geldes
erfolgen soll, befinden sich im Koffer statt der 500-Euro-Noten nur
Zeitungsreste.
Montalbano hat in der Zwischenzeit sozusagen aus dem Rückraum
genau zugehört und genau hingesehen. Obwohl er eine
Höllenangst vor Sterbenden hat, besucht er Signora Mistrella.
Was er dort sieht, riecht und fühlt, bringt ihn auf die Spur,
dass die ganze Entführung wohl nur eine Tarnung für
eine ganz andere Angelegenheit ist.
Als Francesco Lipari sich daran erinnert, dass Susanna kurz vor ihrem
Verschwinden zu ihm kam und zum ersten Mal von sich aus vorschlug,
zusammen zu schlafen, dämmert es Montalbano. Das riecht nach
Abschied, denkt er, sich an entsprechende Szenen mit seiner Livia
erinnernd, und als Susanna nach der Übergabe des Koffers
wohlbehalten zurückkehrt und dem verzweifelten Francesco
mitteilt, sie wolle sich von ihm trennen und
nach
Afrika gehen, kommen
Montalbanos Ermittlungsfäden wie bei einer Spinne, die er zu
Hause lange beobachtet, zusammen, und er kann, wie so oft, abseits der
offiziellen Ermittlungen, den Fall klären, und eine Form von
Gerechtigkeit herstellen, mit der alle leben können.
Dieser - hoffentlich nicht letzte - Roman des berühmten
italienischen Autors und Regisseurs Andrea Camilleri handelt mehr noch
als seine Vorgänger vom Sinn des Lebens von Menschen, die
älter werden und dem
Tod
ins Auge schauen. Er erzählt
von einer menschlichen Form von Gerechtigkeit, die ein Commissario zu
finden sucht, ohne sich mit Gott zu verwechseln. Und wie immer
erzählt Camilleri von skurrilen und liebenswerten
Polizistenpersönlichkeiten, von der unmöglichen Liebe
Montalbanos zu Livia und von gutem Essen und Trinken.
Eine angenehme, leichte, sanft philosophische Krimilektüre
für einen Abend ohne Fernsehkrimi.
(Winfried Stanzick; 10/2006)
Andrea
Camilleri: "Die Passion des stillen Rächers"
Übersetzt von Christiane von Bechtolsheim.
Edition Lübbe, 2006. 254 Seiten.
Buch
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