Italo Calvino: "Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen"

Ein Weltentwurf aus alten Tarockkarten: Könige, Alchimisten, Gaukler, Damen, Lady Macbeth, Parsifal, Lear, Faust - sie alle sitzen rund um den Tisch und "erzählen" ihre Geschichte ...


Seit ich Italo Calvinos "Der geteilte Visconte" gelesen habe, greife ich mit größtem Genuss zu seinen Büchern, so sehr hat er mich in den Bann seiner Sprache und Geschichten gezogen. Bei jeder Begegnung sprengten seine Erzählungen das Medium Buch. "Der geteilte Visconte" kam auf mich als Nacherzählung des Buches zu. Irgendjemanden hörte ich die Geschichte erzählen und dachte: was für ein witziger Plot, dieses Buch muss ich lesen - und war dann ganz überwältigt von der Tiefe des erzählten emotionalen Konfliktes.

Und als ich nun in großer Erwartung zum "Schloss, darin sich Schicksale kreuzen" griff, traf mich wieder diese Grenzüberschreitung. Schon im Druckbild der Seiten treten dem Leser zuallererst die kleinen Bilder am Rande des Textes entgegen. Am Rande? Die Bilder sind die eigentliche Geschichte:

Ein Reisender betritt ein Schloss, inmitten des Waldes gelegen: Er setzt sich an die gedeckte Tafel. Er ist nicht alleine. Viele Reisende treffen hier zusammen; mittelalterliche Charaktere, deren Geschichten warten erzählt zu werden. Da legt der Schlossherr ein Kartenspiel auf den mittlerweile abgeräumten Tisch und ...
"Einer der Tischgenossen zog die verstreuten Karten an sich und machte so einen Großteil des Tisches frei; doch er tat sie nicht zu einem Päckchen zusammen und mischte sie auch nicht; er nahm eine Karte und legte sie vor sich hin. Wir alle erkannten die Ähnlichkeit seines Gesichtes mit demjenigen der Kartenfigur und glaubten zu verstehen, dass er damit 'ich' sagen wollte und sich anschickte, seine Geschichte zu erzählen."
Ohne ein Wort zu sprechen, nur indem er Karte für Karte nebeneinander legt. In den Köpfen der anderen Reisenden beginnt sich eine mögliche Geschichte zu bilden, mögliche Dialoge ertönen, vorangetrieben durch das Auflegen der Karten. Immer dichter wird das Gesamtbild der aufgelegten Karten. Jeder der Reisenden weiß seine Geschichte zu legen. Als die freien Karten immer weniger werden, "erzählt" so mancher sein Leben durch bereits aufgelegte Karten. Wurden sie zuvor von Norden nach Süden "gelesen", so "sprechen" sie nun in entgegengesetzter Richtung zu den Versammelten. Schließlich ist auf einer einzigen Seite das gesamte Buch erzählt. Alle Karten des Tarock sind gelegt. Die Tarockkarten sind die eigentlichen Protagonisten des Buches.

Wundersame Schicksale und die Kraft der Bilder des Tarock vereinen sich in diesem Buch zu den beiden in sich geschlossenen Erzählzyklen "Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen" und "Die Taverne, darin sich Schicksale kreuzen", basierend auf Tarockspielen aus dem 15. bzw.18. Jahrhundert.

"Dies Buch ist an erster Stelle Figur - die Spielkarten des Tarock - und an zweiter Stelle geschriebenes Wort." (Aus den Nachbemerkungen von Italo Calvino für die deutsche Ausgabe.)

Italo Calvino wurde am 15. Oktober 1923 in Santiago de las Vegas/Kuba geboren. Nach seinem Studium der Agrarwissenschaften, Philosophie und Literatur arbeitete er als Journalist und Lektor. Calvino wurde mit Romanen wie "Der geteilte Visconte" oder "Der Baron auf den Bäumen" als einer der innovativsten italienischen Nachkriegsautoren weltberühmt. Sein Werk wurde in alle Weltsprachen übersetzt und mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Viele von Calvinos Büchern sind heute in Italien Volksgut und Schullektüre. Italo Calvino starb am 19. September 1985 in Siena.

(Die Prinzessin; 12/2003)


Italo Calvino: "Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen"
(Originaltitel "Il castello dei destini incrociati")
Aus dem Italienischen von Heinz Riedt.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 1978. 139 Seiten.
ISBN 3-446-12504-3.
ca. EUR 15,24. Buch bestellen

Taschenbuch:
dtv, 2003. 141 Seiten.
ISBN 3-423-13120-9.
ca. EUR 8,50. Buch bestellen

Ergänzende Buchtipps:

Falls Sie mehr über die "sprechenden" Karten erfahren möchten:
Hans-Joachim Alscher (Hrsg.): "Tarock ... mein einziges Vergnügen"
"Tarock, mein einziges Vergnügen, erlaubter Spiele Königin" - so lauten die ersten zwei Zeilen einer Ode auf das Tarockspiel aus dem Jahr 1756. So sieht es auch die österreichische Finanzgesetzgebung zum Glücksspielmonopol: "Erlaubte Kartenspiele sind ausschließlich Geschicklichkeitsspiele: ... Tarock, Bridge, Schnapsen oder Schach." In dieser Einsicht steckt Erfahrung, schließlich identifiziert sich Österreich mit dem "Tarockanien" oder der "Tarockei" aus Fritz von Herzmanovsky-Orlandos "Maskenspiel der Genien".
Tarock hat im Raum Österreich-Ungarn eine lange Tradition (das erste Wiener Tarockbuch erschien 1756), stammt aber ursprünglich von den Renaissance-Fürstenhöfen Mailands und Ferraras (um 1440). Eine Seitenentwicklung des späten 18. Jahrhunderts bildet das okkulte "Tarot", das auf den Spekulationen des Antoine Court de Gébelin über den altägyptischen Ursprung und die geheime Bedeutung der Tarockkarten in "Monde primitif" beruht und bis zum "Giardino dei Tarocchi" der 2002 verstorbenen Künstlerin Niki de Saint-Phalle reicht.
Von der Geschichte dieses durch alle Zeiten mit Leidenschaft betriebenen Kartenspiels erzählt der gegenständliche Band in Texten und Bildern.
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Weitere Werke Italo Calvinos: 


"Wo Spinnen ihre Nester bauen"

Calvino schildert in diesem frühen neorealistischen Roman die Kriegsereignisse in Ligurien aus der Perspektive des verwahrlosten Gassenjungen Pin. Da den Knaben niemand richtig ernst nimmt, stiehlt er als Mutprobe und um Eindruck zu schinden einem deutschen Soldaten die Pistole und versteckt sie in einem Wildbachgraben am Stadtrand. Als der Verdacht auf ihn fällt, sperrt man ihn ins Gefängnis, doch gelingt ihm bald, zu den Partisanen zu fliehen, wo er neue Freunde sucht.
Aus dem Italienischen von Thomas Kolberger.
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"Der geteilte Visconte"

Dem geteilten Visconte hat das Leben übel mitgespielt: Nur seine schlechte Hälfte scheint aus dem Krieg zurückgekommen zu sein. Der Visconte entpuppt sich durch Wiederbegegnung mit seiner guten Hälfte als menschliches Geschöpf mit Schwächen und Stärken.

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"Marcovaldo oder Die Jahreszeiten in der Stadt"
Der Tag eines Wahlhelfers. Erzählungen.
Marcovaldo wohnt mit seiner Familie mitten in der Stadt und träumt beharrlich von einer Natur, die ihm nur noch als ferne Erinnerung gegenwärtig ist. Um die Jahreszeiten richtig zu erleben, begibt er sich deshalb mit unverdrossenem Optimismus auf die Suche nach einer "heilen" Welt. Aber die Pilze, die mitten im Herzen der Stadt sprießen, bringen ihn und seine Lieben ins Krankenhaus. Das Kaninchen, das er mitgehen lässt, ist ein verseuchtes Versuchstier. Das wunderbare Blau des Flusses verdankt dieser einer Farbenfabrik. Selbst der Wald, den seine Kinder am Rande der Autobahn entdecken, entpuppt sich als eine Ansammlung von Reklameschildern. Und dennoch: Diesem einfachen Mann mit kindlichem Gemüt gelingt es immer wieder, ins Reich der Tagträume zu entschweben und seine Niederlagen in Erfolge zu verwandeln. Und statt an der Straßenbahnhaltestelle landet er über den Wolken.
Übersetzt von Nino Erné und Heinz Riedt.
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"Unter der Jaguar-Sonne"
Drei Erzählungen. Calvino war von der Idee fasziniert, ein Buch der fünf Sinne zu schreiben, oder besser: fünf Geschichten zu erfinden, die vom Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Tasten handeln sollten. Drei der fünf Erzählungen, die dieses letzte erzählerische Werk des Autors bilden, hat Calvino noch vor seinem Tode vollenden können.
Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber.
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"Die unsichtbaren Städte" zur Rezension ...