Jaume Cabré: "Die Stimmen des Flusses"
Was geschah wirklich am 18. Oktober 1944 in dem Pyrenäenort Torena?
Im Jahr 2002 verschlägt es die Lehrerin Tina in das kleine
fiktive Pyrenäendorf Torena.
Dort findet sie in einem alten leerstehenden Schulhaus
unzählige Schreibhefte, die sorgfältig hinter der
Tafel des Unterrichtsraums versteckt waren und dort seit Jahrzehnten
ihrer Entdeckung harrten. Verfasser der Einträge in diese
Schreibhefte, die Tina atemlos liest, war der Lehrer Oriol Fontelles.
Mitten im Spanischen Bürgerkrieg führte dieser Lehrer
für seine damals noch ungeborene Tochter eine Art Tagebuch.
Hauptaussage der Schreibhefte ist die Versicherung des Lehrers an seine
Nachkommen, er sei niemals Mitglied der Falange gewesen, im Gegenteil,
er habe den Widerstand gegen das Franco-Regime immer nach
Kräften unterstützt.
Die Lehrerin Tina ist über diese Bekenntnisse ihres Kollegen
erschüttert und begibt sich auf Spurensuche. Dass das für sie
nicht ohne Konsequenzen bleibt, ist eine der wichtigsten Aussagen
dieses erstaunlichen Romans.
Zunächst liest man die Geschichte des Lehrers Oriol Fontelles,
der mitten in den Wirren des Bürgerkrieges in den
Pyrenäenort versetzt wird. Er hat seiner Versetzung
zugestimmt, weil er zusammen mit seiner schwangeren Frau Rosa Zeit
haben wollte; Zeit zum Leben und zum Lesen.
Doch bereits nach kurzer Zeit spürt er, dass es damit nichts
werden wird: Er befindet sich schon mitten im Sog der politischen
Verhältnisse. Gegen seinen Willen wird Fontelles zum
Mitläufer eines Bürgermeisters, der erst durch die
Wirren des Krieges an die Macht gekommen ist. Auch als Targa, der
Bürgermeister, einen Jugendlichen töten
lässt, protestiert der Dorflehrer nicht. Dazu fehlt ihm der
Mut. Bald darauf fehlt ihm seine Frau, denn aus Enttäuschung
und Verachtung über seine Kollaboration verlässt ihn
Rosa.
Doch da ist auch noch die Großgrundbesitzerin Elisenda
Vilabrú, deren Vater und Bruder von Anarchisten
getötet wurden, und die sich nun aus Rache alles und jedermann
untertan macht. Elisenda ist die eigentlich Mächtige in der
Region und wird später erfolgreiche Unternehmerin. Sie
empfindet große Liebe für den Lehrer Fontelles, und
als dessen Frau Rosa das Dorf verlassen hat, lebt Elisenda diese Liebe
mit Oriol auch aus. Dieser wiederum hintergeht seine Geliebte, indem er
Widerstandskämpfern, Partisanen und flüchtenden
jüdischen Familien im Schulgebäude Obdach gibt und
diese Gruppen das Haus zum geheimen Stützpunkt ausbauen
lässt.
Elisendas Strafe ist brutal: Sie lässt Fontelles von den
Helfern des Bürgermeisters in der Dorfkirche zu Tode
prügeln und macht ihn damit zum Märtyrer der
katholischen Kirche. Der Plan, den sie damals fasste,
beschäftigt sie ihr ganzes Leben lang. Kurz vor ihrem Ziel,
sie hat die Seligsprechung ihres ehemaligen Geliebten durch den Vatikan
anno 2002 schon fast erreicht, durchkreuzt Tina, die Lehrerin, die
alles wissen will, ihr Lebenswerk.
Cabré arbeitet häufig mit Rückblenden und
umspannt so einen Zeitraum von mehr als 60 Jahren. Seine brillante
Erzähltechnik verleiht dem Buch eine solche Dramatik, dass man
es einfach nicht mehr aus der Hand legt, bis man es regelrecht
verschlungen hat.
"Die Stimmen des Flusses" ist eine Parabel über die
Pervertierung des menschlichen Charakters durch Krieg, Politik und
Macht. Der Roman könnte
durchaus auch an anderen Schauplätzen der Vergangenheit oder
Gegenwart spielen.
In seiner Heimat Katalonien hat Cabré mit diesem
fantastischen Werk einen enormen Beitrag zur Aufarbeitung des
Bürgerkriegs geleistet.
Der Insel Verlag nahm den Themenschwerpunkt der Frankfurter Buchmesse
2007 - "Katalonien"
- zum Anlass, diesen Roman, der noch lange wirken wird, ins Deutsche
übersetzen zu lassen.
(Winfried Stanzick; 11/2007)
Jaume
Cabré: "Die Stimmen des Flusses"
(Originaltitel: "Les veus del Pamano")
Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt.
Gebundene Ausgabe:
Insel, 2007. 666 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Suhrkamp, 2010.
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Jaume Cabré, geboren 1947 in Barcelona, gehört zu
den von Kritik und Publikum heute am meisten geschätzten
katalanischen Autoren. Der Roman "Die Stimmen des Flusses" wurde mit
dem "Preis der spanischen Kritik" ausgezeichnet.
Drei weitere Bücher des Autors:
"Eine bessere Zeit"
zur Rezension ...
"Claudi" zur Rezension ...
"Das Schweigen des Sammlers"
An jenem Tag verstand ich, dass ich von dem gleichen Dämon besessen war wie
mein Vater. Das Kribbeln im Bauch, das Jucken in den Fingern, der trockene Mund
...
Der Antiquitätenladen des Vaters
in Barcelona ist eine wahre Schatzkammer,
doch die Faszination des jungen Adrià gehört allein einer wertvollen Geige aus
dem 18. Jahrhundert mit einem bezaubernden Klang, die erste aus den Händen des
berühmten Geigenbauers Lorenzo Storioni aus Cremona. Heimlich tauscht der
Musikschüler Adrià sie eines Tages mit seiner eigenen Geige aus, um sie stolz
seinem besten Freund Bernat zu zeigen. Als er die Storioni zurücklegen möchte,
sind seine Geige und sein Vater verschwunden, der Antiquitätenhändler wurde
kaltblütig ermordet. In Adrià keimen Schuldgefühle auf.
Viele Jahre danach, Adrià ist inzwischen Gelehrter und Sammler, sucht er das
Rätsel um die Herkunft der Storioni zu lösen und so den wahren Grund für den
Mord herauszufinden. Doch er ahnt nicht, dass die Vergangenheit des
Musikinstruments eine Geschichte von Familiengeheimnissen und dunklen
Mordfällen, von Hass und Intrigen, Liebe und Verrat birgt. Der Schatten dieser
Ereignisse ragt über viele Jahrhunderte europäischer Geschichte bis in Adriàs
unmittelbare Gegenwart und droht ihm alles zu nehmen - auch seine große Liebe
Sara. (Insel)
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