Erika Burkart: "Die Vikarin"
Erika
Burkart, am 8. Februar 1922 in Aarau geboren, ist eine der bekanntesten
und bedeutendsten Lyrikerinnen der Schweiz. Völlig abseits von
modischen Strömungen sind ihre Werke und ihre Sprache von
archaischer Präsenz.
"Die Vikarin" ist ein autobiografischer Text und dennoch "Bericht und
Sage". Denn Erika Burkart wechselt in diesem wunderbaren und kostbaren
Buch zwischen der Position der Ich-Erzählerin und einem
unpersönlichen "sie". Dadurch gewinnt sie an manchen Stellen
nötigen Abstand und klare Hellsichtigkeit. Ihr Bericht umfasst
die Jahre 1942 bis kurz nach Kriegsende. Sie wächst als
Tochter einer Lehrerin und eines Gastwirts auf, und schon früh
ist klar, dass sie Schriftstellerin werden möchte. Nach
Abschluss ihrer Lehrerausbildung arbeitet sie deshalb ab 1942 als
Vikarin. So nannte man damals in der Schweiz die Lehrerinnen, die, von
einer Schule zur anderen nomadisierend, immer dort eingesetzt wurden,
wo eine andere Lehrkraft kurzfristig ausfiel. Erika Burkart empfindet
das unterrichten Müssen als notwendigen Zwang, der ihr die
finanzielle Unabhängigkeit gibt, ihrer wahren Berufung
nachzugehen: dem Schreiben.
"Die Vikarin" berichtet zunächst einmal von den
unterschiedlichen Vertretungseinsätzen im genannten Zeitraum.
Burkart beschreibt eine Welt, die es schon lange nicht mehr gibt. Mit
dem Fahrrad oder zu Fuß erreicht sie, oft schon im
Morgengrauen aufbrechend, einklassige Landschulen mit Kindern
unterschiedlichen Alters. Manche dieser Kinder haben schon stundenlang
auf den kleinen Höfen ihrer Eltern gearbeitet, bevor sie sich
erschöpft und müde auf die harte Schulbank setzen.
Viele können auch nach Jahren nicht richtig
lesen, schreiben
und rechnen. Und obwohl sie immer wieder mit Widerwillen ihre
Vertretungen antritt, versucht sie, diesen Kindern gerecht zu werden.
Sie versucht, besonders mit
Märchen,
die sie dann zeichnen
lässt, die Kinder zu fesseln und sie damit auf eine tiefere
Wahrheit zu verweisen, die sie selbst in sich spürt. Wie sie
ihren eigenen Lernprozess schildert, beschreibt, was sie von den
Kindern auch über sich selbst und ihr eigenes Leben lernt, das
rührt sehr an. Der Leser ist regelrecht vereinnahmt von ihrer
Sprache und ihren Bildern. Aber auch von ihrer zutiefst menschlichen
Pädagogik:
"Die Kinder werden alles vergessen, was ich lehrte. Alle Kinder werden
alles vergessen. Nicht vergessen werden sie, wie ich manchmal lachte,
wenn ich hätte schelten sollen. Müssen die Schwachen
schlottern, ist das Klima schlecht."
Während Erika Burkart ihr Buch schreibt, berichtet sie im
August 2003 von einem Gespräch mit einer Freundin, die als
Grundschullehrerin arbeitet und unter dem modernen Schulalltag leidet:
"K. unterrichtet eine städtische 3. Klasse und leidet unter
den persönliche Freiheit und humane Grunderkenntnisse
missachtenden, zur Zeit aktuellen Schulreglementen. K. ist sanft
energisch, eine beherzte junge Frau, kluge kreative Pädagogin
und 'kinderlieb'. Sie erklärt, erzählt, macht die
Kleinen bekannt mit den
Gesetzen der Biene, den Wundern des Weizenkorns
und bedenkt mit ihnen die Rätsel der Himmelskörper,
gestresste Väter und ehrgeizige Mütter versucht sie
zu beruhigen. Die Un-Wörter der modernen Schul- und
Psycho-Inquisition verachtet sie, weigert sich, einen Jargon zu
übernehmen, in welchem die Schule nicht gepflegt, sondern
gemanagt wird, wo Kinder nervlich überfordert, durch
Maschinenmissbrauch und Computerklima im eigenen Denken behindert und
infolge Vernachlässigung des Gemüts und seiner
Sprache vor der Zeit entwurzelt werden. Sie stören die
organische Entwicklung von Lebewesen, die Zeit brauchen, Ruhe,
Zuspruch, Liebe.
Kinder werden nicht mehr erzogen, sondern manipuliert. Schuften, nicht
leben soll der Mensch. Brauchbar soll er werden, bis man ihn
für alles brauchen kann. Streben soll er, gierig, nach
Einkommen und dem Wissen, wie dieses zu steigern ist, endlos, bis
dorthin, wo auch Materie sinnlos wird, ein Fetzen Papier, sogenanntes
'Wertpapier', das ein irregelaufener Milliardär verwechselt
mit Klosettpapier."
"Die Vikarin" ist zum anderen ein Buch voll mit so noch nie gelesenen
Beschreibungen der Natur, dem Ablauf der Jahreszeiten. Sie sind so
fesselnd, dass der Rhythmus der Jahreszeiten, wie sie ihn beschreibt,
einen eigene Dynamik erzeugt. Und sie schildert die
Außenwelt, die ab 1942 auch in der Schweiz nicht heil ist. Da
gibt es Lager, in die vor den Nazis geflüchtete Menschen
gesteckt werden, ein Lehrer wird wegen Unsittlichkeit vom Dienst
suspendiert, und die Armut der Menschen ist hart und grausam.
Nicht zuletzt ist "Die Vikarin" die poetische Dokumentation von Erika
Burkarts persönlichen Erlebnissen in diesen Jahren, dem
Verhältnis zu den Eltern, die z.T. dramatisch und immer
schmerzhaft gescheiterten Liebesbeziehungen, die sie an den Rand ihrer
psychischen Kraft bringen und der schlussendliche Zusammenbruch, als
ihr Herz nicht mehr mitmachen will. Dabei gelingt ihr eine einmalige
Balance zwischen Deutlichkeit und Diskretion.
Kurz vor dem Abschluss der Niederschrift dieses Buches notiert sie am
10.7.2005 in einem Gedicht:
"Epilog"
So ist denn, was wir lehren, lernen,
ein Körnchen kaum vom Weiten Feld,
das Rätsel ballt sich in den Kernen,
zerstiebt in immer fernern Sternen
die ephemere Welt, die,
gehen wir fort, im letzten Blick
in einem schwarzen
Blitz zerschellt."
Erika Burkart schreibt aus einer anderen Welt, mit einer von Poesie und
Lyrik durchtränkten, bildereichen und
symbolträchtigen Sprache, die ich in meinem langen Leserleben
in zeitgenössischer Literatur so noch nie gefunden habe.
Dieser Buch ist ein kleines Sprachjuwel und nicht nur angehenden und
praktizierenden Lehrern nur zu empfehlen.
(Winfried Stanzick; 09/2006)
Erika
Burkart: "Die Vikarin"
Ammann Verlag, 2006. 296 Seiten.
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Erika Burkart starb am 14. April 2010 im Alter von 88 Jahren.
Ein
weiteres Buch der Autorin:
"Ortlose Nähe"
Mit diesen Gedichten ortet die Doyenne der Poesie aus der Schweiz die
Stille in ihrer unmittelbar erfahrbaren Umgebung aus, der Natur gilt
ihre Aufmerksamkeit ebenso wie den Menschen, die mit ihren feinen
Besonderheiten das Interesse der Dichterin gefunden haben.
Kämpferisch gibt sich die Dichterin dort, wo sie den Wert und
den Sinn einer natürlichen Existenz missachtet und bedroht
sieht. (Ammann)
Leseprobe:
Die Arbeit zu leben
Es gibt Morgenhügel
und Abendfelder,
dazwischen Maschinen und Menschen,
den Widersacher, die Unzeit,
das Quentchen Glück und den Aschenregen -,
zwischen Totenstille und Sturm
den Schauer Leben.
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