Michail Bulgakow: "Der schwarze Magier"
Urfassungen des Romans "Der Meister und Margarita"
Michail Bulgakow (1891-1940)
ging erst siebenundzwanzig Jahre nach seinem Tod in die Weltliteratur ein. Sein
Hauptwerk "Der
Meister und Margarita", an dem er zwölf Jahre bis zu seinem Tod gearbeitet
hat, gilt als literarische Sensation und wird mit Werken wie Goethes "Faust",
Dostojewskis "Die Brüder Karamasow"
und Thomas Manns "Doktor Faustus" verglichen. Freie literarische Arbeit war
während des sowjetischen Staatssozialismus unter Stalin nicht möglich. In den
1920er-Jahren begann durch die Schriftstellerorganisation RAPP (Russische Assoziation
Proletarischer Schriftsteller) - im Sog von Stalins Terror - eine Hetzjagd gegen
Bulgakow und seine Werke. Seine Stücke wurden 1929 verboten. Selbst in Gefahr,
vernichtete Bulgakow 1930 das Manuskript zu "Der Meister und Margarita". Von
der Urfassung sind nur Fragmente übrig geblieben.
Bulgakow kam von der Romanidee jedoch nicht mehr los. Ohne Hoffnung auf eine
Veröffentlichung zu Lebzeiten, arbeitete er bis zu seinem Tod an diesem Roman.
Es entstanden mindestens sechs Romanvarianten. Im Moskauer Bulgakow-Archiv lagern
mehr als tausend Seiten Rohmaterial zu "Der Meister und Margarita", aus denen
im vorliegenden Buch eine Auswahl vorgestellt wird. "Der schwarze Magier" ist
chronologisch aufgebaut. Bulgakows Arbeitsprozess und die Entwicklung des Romans
lassen sich, zumindest teilweise, nachvollziehen.
Fragment der ersten Romanfassung von 1928/29
Aus der ersten Romanfassung sind vier Kapitel abgedruckt. Sie beschreiben
das Wüten, Wirken und Walten des Bösen in Moskau. Betroffen sind, neben Teilen
der Moskauer Bevölkerung, Verantwortliche des Varietétheaters, die von Voland
und seinen Gehilfen vorgeführt werden. Weitergehende Erläuterungen zur Urfassung
sind in den Anmerkungen enthalten. Danach beinhaltet das erste Kapitel ("Sprechen
Sie nie mit Unbekannten", laut aktueller Romanfassung) eine Fülle von Details,
die später weggelassen wurden. Als Zeitraum der Geschichte ist 1935 angegeben.
Die Diskussionen am Patriarchenteichboulevard zwischen Besdomny, Berlioz und
Voland sind detaillierter dargestellt. Auch das Voland-Evangelium wurde ausführlicher
behandelt als in späteren Versionen. Die Rolle von Pilatus, der mit der Hinrichtung
von Jeschua Ha-Nozri (gemeint ist Jesus) eigentlich nicht einverstanden war,
aber sich trotzdem genötigt sah, das Todesurteil zu sprechen, wird besonders
herausgestellt. "Auf diese Weise sprach Pilatus sich selbst ein schreckliches
Urteil", resümiert Voland. Als "Teufel und Versucher" auftretend, bringt Voland
in der Diskussion am Patriarchenteichboulevard Besdomny zur Verzweiflung. Dieser
zertrampelt eine in den Sand gezeichnete Christusdarstellung.
Voland fordert Berlioz auf, der das Wesen des Geschehens erfasst, ihn davon
abzuhalten. Berlioz mischt sich nicht ein und muss dafür mit seinem Leben bezahlen.
Seine Bestattung wird ausführlich beschrieben. Der aus der Psychiatrie entflohene
Besdomny entführt den Wagen mit dem Leichnam und rast durch Moskau. Der Tote
steigt aus dem Sarg, und es entsteht der Eindruck, er lenke den Wagen. Der Wagen
stürzt in den Moskwa-Fluss, und Besdomny redet wirres Zeug
über Pontius Pilatus.
Fragment der zweiten Romanfassung von 1928/29
Es sind drei Kapitel abgedruckt, die das Voland-Evangelium, die Diskussionen
am Patriarchenteichboulevard und die Verfolgung Volands nach dem Tod von Berlioz
beinhalten. Die Gespräche der Protagonisten und das Voland-Evangelium fließen
ineinander über. Erwähnenswert ist der Hinweis von Jeschua Ha-Nozri, Levi Matthäus
schreibe alles über ihn auf, und nichts davon stimme. Die Hinrichtung Jeschua
Ha-Nozris wird als nicht zwingend dargestellt. Pilatus hätte ihn retten können.
Voland unterstreicht seine Rolle als Zeitzeuge: "Von den Evangelien zu sprechen
ist lächerlich, nachdem ich es Ihnen erzählt habe. Ich weiß es besser."
Auch in dieser Fassung muss Berlioz, den Voland für scharfsinnig aber uneinsichtig
hält, für seinen Unglauben sterben. Der (makabere) sechste Gottesbeweis ist
die Bestätigung der Todesprophezeiung für Berlioz. Auch in dieser Romanfassung
sind die Anspielungen auf die reale Politik direkter als in der Endfassung.
Zitat Voland: "Wie willst Du den Bauern predigen? Der Bauer mag eine scharfe
Propaganda." Die Aussage Volands "Ich möchte mal sehen, wie eine Menschenmenge
das Gericht zu beeinflussen versucht, das dem Prokurator untersteht, noch dazu
einem solchen wie Pilatus!", dürfte eine Anspielung auf Stalin sein. Aus den
Anmerkungen geht hervor, dass Bulgakow an eine nachsichtige Einstellung Stalins
zu sich glaubte. Stalin war für Bulgakow ein moderner Pilatus.
Entwürfe zum Roman von 1929-1931
Als Zeitraum der Handlungen wird 1943 genannt. Die Szene im "Gribojedow" (Literatentreff)
wird beschrieben. Besdomnys Auftritt nach der Verfolgung Volands ist noch dramatischer
als in der Endfassung ("... er war barfuss, und auf der blutverkrusteten Brust
war eine Papierkrone, die Jesus darstellte, direkt an die Haut geheftet.").
Er wird in die Psychiatrie eingeliefert.
Romanfassung von 1932-1934
Diese Fassung mit dem Namen "Der Großkanzler" ist fast vollständig abgedruckt.
Sie hat starke Ähnlichkeit mit der endgültigen Version. Aber ein paar wesentliche
Unterschiede gibt es doch. So beschäftigt Besdomny sich in der Psychiatrie mit
den Evangelien. Voland (nicht der Meister!) erscheint ihm um Mitternacht und
erzählt sein Evangelium. Diese Variante ist plausibel. In der Endfassung bleibt
rätselhaft, wieso des Meisters Pilatusgeschichte und das Voland-Evangelium übereinstimmen.
Die Liebesgeschichte zwischen dem Meister und Margarita fehlt in diesem Entwurf
(wurde herausgeschnitten). Gab es vielleicht einen historischen Bezug? Asasellos
Überredung Margaritas, am Ball teilzunehmen, erscheint nicht plausibel. Welchen
Sinn hat Asasellos Bemerkung: "Und da, als die Gewitterwolke schon halb Jerschalaim
zudeckte und die Palmen unruhig zu schwanken begannen", wo doch der Bezug zu
dem Werk "Pontius Pilatus" des Meisters an dieser Stelle noch gar nicht klar
ist. Margarita reagiert auch nicht auf diesen Ausspruch Asasellos, sondern auf
das Schlüsselwort "Aeroplan", über das sie den Bezug zum Meister herstellt.
In der Endfassung ist der Meister als Schöpfer des Werkes "Pontius Pilatus"
bekannt, und Margarita kennt das Werk.
Auf dem großen Ball beim Satan taucht plötzlich Besdomny auf. Er ist offensichtlich
verstorben. Eine genaue Rekonstruktion der Umstände ist nicht möglich, da die
Unterlagen unvollständig sind. Wegen einiger fehlender Seiten ergibt sich insgesamt
eine brüchige Beschreibung der Ballszenen.
Als Belohnung für die Teilnahme am Ball will Margarita ihren Liebsten (gemeint
ist der Meister) zurück haben. Voland ist überrascht (Zitat: "Ich hätte nie
gedacht, in dieser Stadt könnte es wahre Liebe geben."). Margarita erwähnt,
dass der Meister ein Buch über "Joschua Ha-Nozri" geschrieben hat. Voland zeigt
sich interessiert. Der Meister wird (aus der Haft) geholt. In späteren Fassungen
sitzt er in der Psychiatrie. Margarita und der Meister beziehen, wie in der
Endfassung, die alte Kellerwohnung des Dichters. Die Schlussszenen in Moskau
sind dramatischer als in der Endfassung. Moskau wird an mehreren Stellen angezündet,
und Volands Gehilfen werden gejagt. Asasello besucht auf Weisung Volands Margarita
und den Meister. Sie trinken vergifteten Wein und sterben.
Sie verlassen das irdische Reich und fliegen mit Asasello davon. Margaritas
Liebster wird hier zum erstenmal "Meister" genannt. Voland und seine Gehilfen
verwandeln sich in ihre ursprünglichen Gestalten. Sie treffen unterwegs einen
Mann, der von der "Sünde der Feigheit" betroffen ist.
Margarita kennt ihn (Pontius Pilatus). Ihm wird vergeben, und er darf Jeschua
Ha-Nozri treffen.
Romankapitel von 1934-1936
Besdomny, Diskutant am Patriarchenteichboulevard und Zeuge des Straßenbahnunglücks
mit Berlioz, bekommt in der Psychiatrie Besuch vom Meister (in bisherigen Versionen
von Voland). Besdomny erzählt seine unwahrscheinlichen Erlebnisse, die ihn in
die Psychiatrie gebracht haben. Der Meister sagt vorerst nicht, dass der Fremde
Voland, der Satan, ist.
Er schreibt einen Roman und möchte Voland treffen, damit dieser ihm bei seinem
Roman helfen kann. Der Meister erzählt seine eigene Geschichte als Autor und
Geliebter von Margarita. Seinen noch unfertigen Roman würden viele Leser nicht
verstehen. Er skizziert den weiteren Romanverlauf. Es folgen der Abflug aus
Moskau und die Verwandlungen von Voland und seinen Gehilfen, aber keine Begegnung
mit Pontius Pilatus. Voland stellt eine Verbindung zwischen dem Meister und
Jeshua (und damit seinem Evangelium) her: "Du wirst belohnt, danke dem durch
Sand gehenden Jeschua, den du gestaltet hast, aber erinnere dich nie wieder
an ihn. Du bist bemerkt worden, und du wirst bekommen, was du verdienst. ...
Aus deinem Gedächtnis werden verschwinden ... auch der Gedanke an Ha-Nozri und
den Hegemon, dem vergeben wurde. Das geht über deinen Verstand. Du wirst dich
niemals höher erheben und nie Jeschua sehen."
Romankapitel von 1937/38
Eine ausführliche Version des Kapitels "Der große Ball beim Satan" ist abgedruckt.
In dieser Fassung sind Goethe und Gounod Teilnehmer des Balls.
Goethes
"Faust" und Gonouds Musik zur Oper "Margarethe" könnten der Grund sein.
Die früheren Varianten des Romans "Der Meister und Margarita" tragen zum Verständnis
bei, welche Motive Bulgakow bewegt haben und welche Verbindungen zu konkreten
Personen und politischen Verhältnissen in seinem Roman enthalten sind. In den
früheren Entwürfen hat Bulgakow seine Anspielungen weniger verschlüsselt, später
musste er aus politischen Gründen vieles kaschieren.
Eine zentrale Frage, nämlich die Verbindung zwischen dem Voland-Evangelium und
dem damit übereinstimmenden Pilatusroman des Meisters, bleibt unklar. Aus der
Entwicklung heraus wird erkennbar, dass die Rolle des Meisters nach und nach
höher gewichtet wurde. Aus "dem Liebsten" von Margarita und dem Autor "eines"
Pilatusromans wurde allmählich "der Meister" und Autor "des" Pilatusromans.
Der Grund für die Übereinstimmung mit dem Voland-Evangelium bleibt nebulös (eine
Vision?).
"Der Meister und Margarita" lässt viel Spielraum für Interpretationen und ist
nicht frei von Widersprüchen. So werden sich noch Generationen von Literaturinteressierten
mit diesem vielschichtigen Werk beschäftigen.
(Klemens Taplan)
Michail Bulgakow: "Der schwarze Magier. Urfassungen von 'Der Meister und Margarita'"
Volk & Welt, 1994.
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Zwei weitere Buchtipps:
Michail Bulgakow: "Ich bin zum Schweigen verdammt. Tagebücher und Briefe"
"Der Name Bulgakow wird in der Geschichte der
Literatur unvergessen bleiben", prophezeite Maxim Gorki um 1930, eine
Prophezeiung, die zu dieser Zeit absurd erschien. Die schriftstellerische
Karriere von Michail Bulgakow, dem Autor des epochalen Romans "Meister und
Margarita", der heute längst als eines der Meisterwerke der Literatur des 20.
Jahrhunderts anerkannt ist, war zu seinen Lebzeiten ein immerwährender und
meist vergeblicher Kampf gegen die staatliche Zensur. 1926 wurden seine
Tagebücher von den Behörden beschlagnahmt. Von diesem Moment an beschränkte
Bulgakow seine Gedanken auf Briefe an seine Freunde und Familienangehörigen
und an öffentliche Persönlichkeiten wie Stalin oder seinen
Schriftstellerkollegen Maxim Gorki.
"In meiner Schwermut und meiner Sehnsucht nach der
Vergangenheit kommt es manchmal zu Explosionen von Kraft und Zuversicht",
notierte Bulgakow vor der Beschlagnahmung seiner Tagebücher. "Ich spüre, wie
sich meine Gedanken emporschwingen, wie jetzt in der absurden Situation
zeitweiliger Enge in dem scheußlichen Zimmer des scheußlichen Hauses, und ich
weiß, dass ich als Schriftsteller unermesslich stärker bin als alle, die ich
kenne. Aber unter meinen jetzigen Umständen gehe ich womöglich in die Knie."
Seine Briefe und Tagebuchaufzeichnungen - meisterhaft übersetzt von Thomas und
Renate Reschke - erzählen eindrucksvoll von dem beständigen Ringen des
Schriftstellers mit der Zensur. Von seinem gescheiterten Versuch, die UdSSR zu
verlassen, der materiellen Not und der Krankheit, die zu seinem frühen Tod
führte. "Alles ist verboten, ich bin ruiniert, ich werde gehetzt, ich bin
völlig einsam. Wozu einen Schriftsteller in einem Land festhalten, in dem
seine Werke nicht existieren können?" (Luchterhand)
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Ein Hörbuchtipp:
Wladimir Kaminer: "Michail Afanasjewitsch Bulgakow - Berichte aus den
Tiefen der russischen Literatur"
Eine Hommage. Die
Reihe "Aus den Tiefen der russischen Literatur" von Wladimir Kaminer
wird mit einer Ausgabe zu Bulgakow, dem Autor des Romans "Der Meister und
Margarita", fortgesetzt. Kaminer widmet sich Bulgakow in eigenen Texten und
liest Auszüge aus dessen Werk in seiner unnachahmlichen Diktion. (Random House
Audio)
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