"Das Ma'assebuch"

Altjiddische Erzählkunst


Das Ma'assebuch, das "Buch der Geschichten", welches erstmals 1602 in Basel erschien, ist eine dicke Sammlung jüdischer Geschichten und stellt als solche das wichtigste Dokument jüdischen Erzählens der Zeit bzw., da die meisten Geschichten schon länger existierten, der Zeit davor dar. Die Sammlung war als Volksbuch, als eine Art jiddischer Talmud für das einfache Volk, sofern es denn lesen konnte, konzipiert, hatte eine möglichst weite Verbreitung zum Ziel und dürfte dies mit einer gewissen Verspätung auch erreicht haben. Nicht in Hebräisch, sondern in Altjiddisch (dem am Mittelhochdeutschen orientierten Jiddisch der westeuropäischen Juden) niedergeschrieben sprach das Buch nicht nur die Sprache des Volkes, sondern dezidiert auch der Frauen, hatte Geschichten für jede Lebenslage zu bieten und war dabei verantwortungs- und traditionsbewusst von stark didaktischem Charakter.

Die hier vorliegende Ausgabe ist vollständig: das Altjiddisch in ein die ursprüngliche Atmosfäre möglichst bewahrendes Hochdeutsch übersetzt, zu welchem Zweck auch manche interessante Wörter im jiddischen oder hebräischen Original in Klammer angeführt sind, Übernahmen, Zitate und Anspielungen aus dem Talmud und anderen Schriften wiederum finden sich am Ende der jeweiligen Geschichte angemerkt, und wenn man denn überhaupt etwas an dieser Ausgabe kritisieren möchte, dann vielleicht, dass man die eine oder andere Erzählung um der besseren Einstimmung ins Ganze willen auch im ja nicht gänzlich unverständlichen Original hätte abdrucken können.

Bei den Geschichten handelt es sich vorwiegend um wohlgeschriebene Märchen und Legenden mit einem klaren Thema, wobei die Themenvielfalt bemerkenswert ist. Midrasch und Talmud haben dabei ebenso Stoff geliefert wie Rabbilegenden aus dem Mittelalter, die hebräischen Sammelwerke der frühen Neuzeit und Märchen christlicher Herkunft, sodass es (von der gewiss mühsamen Sammlertätigkeit ganz zu schweigen) eine große schriftstellerische Leistung, ob eines Einzelnen oder mehrerer ist unbekannt, bedeutete, den verschiedenartigen Stoff zu relativ einheitlichen Geschichten in einem volkstümlich-märchenhaften Stil und einer Standardlänge von ein bis fünf Seiten zu verarbeiten. Man könnte die Geschichten auch in sakrale, von den Wundertaten großer Männer handelnde (der Häufigkeit ihres Auftretens nach seien stellvertretend für viele nur der Profet Elia, König Salomon und Rabbi Jehuda Chassid genannt) und profane Geschichten des gewöhnlichen Lebens, der Menschen von Fleisch und Blut, der Tugenden und Laster unterteilen, meist aber greifen beide ineinander über. Die Wechselwirkung von Himmel und Erde, die Konsequenzen des Befolgens oder Übertretens göttlicher Gebote, dies zieht sich überhaupt als roter Faden durch die Sammlung. Nicht zuletzt diente das Ma'assebuch als ein Handbuch des rechten, der göttlichen Ordnung entsprechenden Tuns oder der Rückgewinnung desselben, und häufig endet eine Geschichte mit ihrer buchstäblichen Moral (manchmal wieder verweist ein abschließender rabbinischer Kommentar auf einen Raum der Varianten und Interpretationsmöglichkeiten). Dass diese Moral keine christliche, aber eine der christlichen verwandte ist, macht in dem leichten Perspektivenwechsel, in dem Erstaunen über unerwartete Handlungsverläufe und kühne Urteilssprüche einen erheblichen Reiz des Buches aus.

(fritz; 01/2004)


"Das Ma'assebuch"
dtv, 2003. 845 Seiten, mit 33 Bildern.
Ins Hochdeutsche übertragen, kommentiert und 
herausgegeben von Ulf Diederichs.
ISBN 3-423-13143-8.
ca. EUR 14,50. Buch bestellen