Dan Brown: "Sakrileg"

"Was ist die Geschichte anderes als eine Lüge, über die sich alle einig sind?"
(Napoleon)


Sangreal und Prieuré de Sion
In seinem Roman "Sakrileg" greift Dan Brown die spekulative Hypothese von Michael Baigent, Richard Leigh und Henry Lincoln auf, wonach Jesus Christus verheiratet war und mit seiner Frau Maria Magdalena ein Kind zeugte. 1982 hatte das Autorentrio diese von vielen Christen als Sakrileg empfundene Reinterpretation des Neuen Testaments in Form des Buches "Holy Blood, Holy Grail" veröffentlicht. Der Schoß Magdalenas sei der eigentliche Gralskelch, der das "Blut" Christi - sprich seine Nachkommenschaft - empfangen hatte. Diese heilige Blutlinie gilt es zu wahren bzw. ihr Geheimnis zum historisch geeigneten Zeitpunkt zu offenbaren. Sangreal, das althergebrachte Wort für den mystischen Kelch, wäre demnach nicht als "heiliger Gral" (san greal), sondern als "königliches Blut" (sang real) zu verstehen. Natürlich muss die Blutlinie Jesu, "Das Vermächtnis des Messias" (wie ein weiteres Buch der drei Gralsschreiber heißt), beschützt werden. Diese Aufgabe soll eine elitäre Geheimorganisation übernommen haben, welche ursprünglich aus dem innersten Kreis der Tempelritter bestanden hatte. Ihr Name: Prieuré de Sion (Priorat von Zion).

Als diese Gralsinterpretation in den 1980ern Stoff für Bestseller lieferte, war das Medienecho groß. Der "Houston Chronicle" schrieb von einer "bizarren Theorie", "Publishers Weekly" fand den Ansatz hingegen "umwerfend [und] höchst debattierwürdig", der "International Herald Tribune" sah einen "religiösen Feuersturm" (Zitate aus: "Holy Blood, Holy Grail"). Mittlerweile empört die Hypothese von der Blutlinie Christi weit weniger Menschen; sie fasziniert vielmehr, wie die Verkaufszahlen von Dan Browns "Sakrileg" beweisen. Der US-amerikanische Thrillerautor versteht es gewieft, die Geschichte so zu erzählen, als wäre sie allein seiner Imagination entsprungen. Baigent/Leigh/Lincoln erwähnt er kein einziges Mal namentlich.

Flucht aus dem Louvre
Die Handlung nimmt im Louvre zu Paris ihren Anfang. Dort wird Museumsdirektor Jacques Saunière ermordet. Wie sich bald herausstellt, war er Großmeister des Prieuré de Sion gewesen. Vor seinem Ableben gelang es Saunière, kryptische Hinweise zu geben, die Nichteingeweihten absurd erscheinen. Nicht nur, dass der Schwerverletzte sich in seinen letzten Lebensminuten nackt auszog, er legte sich als menschliches Pentagramm in Form von Leonardos berühmter "Proportionsstudie" auf den Boden. In der leichenkalten Hand umklammerte Saunière einen Schwarzlicht-Schreiber; das ist ein Stift, dessen Schrift nur bei UV-Bestrahlung sichtbar wird. Die Polizei findet folgenden Code auf das Parkett geschrieben vor:

13-3-2-21-1-1-8-5
O, Draconian Devil!
Oh, lame saint!

Da niemand etwas mit einem "drachenhaften Teufel" bzw. "lahmen Heiligen" anzufangen weiß, wird der Harvard-Symbolologe Robert Langdon (bestens bekannt aus Browns Vorgängerwerk "Illuminati") hinzugezogen, der ohnehin in Paris weilt und ein Treffen mit Saunière plante. Für die Ermittler gilt der Professor als Hauptverdächtiger. Denn es stand noch eine vierte Zeile neben der Leiche auf dem Parkett. Sie lautete: "P.S. Robert Langdon suchen!" Langdon ahnt von dem nichts. Kurz vor der Verhaftung gelingt dem Harvard-Gelehrten mit Hilfe von Sophie Neveu, Dechiffrierexpertin der Staatspolizei, die Flucht aus dem Louvre. Sophie ist nicht nur von Robert Langdons Unschuld überzeugt, sondern auch noch die Enkeltochter des ermordeten Saunière.

Fibonacci-Reihe und Leonardo-Code
Nun beginnt eine atemberaubende Schnitzeljagd, einerseits nach dem wahren Mörder, andererseits nach dem Aufenthaltsort des Grals. Dieser besteht bei Brown aus dem Sarkophag mit den Gebeinen Maria Magdalenas, apokryphen Evangelien sowie einer genauen Genealogie, ausgehend von Christi Tochter Sarah bis zum mittelalterlichen französischen Königshaus der Merowinger, das sich mit Sarahs Nachkommenschaft vermischt hatte. Saunières letzte Kraftanstrengung als Großmeister des Priorats von Zion war es, verschlüsselte Hinweise zu geben, wo der Gral aufzufinden wäre. Dies musste er tun, da sein Mörder zuvor auch die "vier Seneschalle" (Stellvertreter des Großmeisters) getötet hatte. Außer diesem Pentagramm an Personen weiß selbst im Prieuré de Sion niemand um die genaue Lokalisation der Gralsbeweise. Sterben alle fünf zugleich, ist das Geheimnis für alle Zeit verloren, es sei denn, jemandem gelingt es, Sauniéres Chiffren zu deuten. Robert Langdon wird wider Willen in die mörderische Jagd nach dem Gral hineingezogen. Ihm kommt die Rolle Parsifals, des "reinen Toren" zu. Und wirklich tappt er von einer Falle in die andere, ohne es zu ahnen. Immer ist es Sophie (deren Name "Weisheit" bedeutet), die ihm weiter hilft. Langdon und die Enkelin des Großmeisters bilden eine Einheit von Yin und Yang, ganz nach den vorchristlichen Idealen Sauniéres.

Sophie ist es auch, die herausfindet, dass die Zahlen 13-3-2-21-1-1-8-5 eine Verdrehung der so genannten Fibonacci-Reihe (benannt nach Leonardo Fibonacci, 13. Jh.) sind, einer mathematischen Sequenz, in der die nachfolgende Zahl immer der Summe der beiden vorhergehenden entspricht, also 1-1-2-3-5-8-13-21 usw. Die Quotienten der Glieder dieser Reihe stehen wiederum in engem Zusammenhang mit der Zahl Phi, die da lautet 1,618. Phi ist Grundeinheit für den Goldenen Schnitt, der in Architektur, Musik oder Körperbau lange Zeit als "göttlicher Maßstab" gegolten hat. Zur Veranschaulichung: Nimmt man den Abstand vom Scheitel bis zur Sohle und dividiert das Ergebnis durch jenes, das durch den Abstand Nabel-Sohle entsteht, ergibt sich 1,618. Dasselbe gilt für das Verhältnis Schulter : Fingerspitzen zu Ellenbogen : Fingerspitzen oder für die Proportionen Hüfte : Sohle zu Knie : Sohle. Bei Leonardos "Proportionsstudie" schließt sich dieser mathematisch-metaphysische Kreis.

Schnitzeljagd nach dem Gral
Es sind Einzelheiten wie diese, die den Roman "Sakrileg" so lesenswert machen. Praktisch im Vorbeigehen werden Dinge offenbart, die ihrerseits wieder Stoff für Dutzende Bücher liefern könnten. Sophie und Robert nehmen den Leser auf abenteuerliche Entdeckungsreisen mit. Es beginnt in der Pariser Kirche Saint-Sulpice, durch die bis 1888 der Nullmeridian verlief (ehe er nach Greenwich verlegt worden war). Dieser Meridian hieß auch Rosenlinie. Die Rose wiederum ist Symbol der Muttergottheit; verkörpert durch Magdalena. Gar unchristliche Persönlichkeiten wie de Sade oder Baudelaire wurden in Saint-Sulpice getauft. Dan Brown lässt einen Mord in diesem sonderbaren Gotteshaus passieren. Danach geht’s weiter zum Schließfach einer Schweizer Bank, wo Langdon und Neveu auf ein merkwürdiges Artefakt stoßen, das so genannte Kryptex, ein in Vergessenheit geratenes Spielzeug Leonardo da Vincis, vom getöteten Sauniére nachgebaut. In "Sakrileg" ist das Kryptex ein steinerner Zylinder aus fünf drehbaren Teilen, die mit Buchstaben versehen sind. Wird das richtige Wort eingegeben, öffnet sich der Behälter. Im Inneren liegt - zur doppelten Absicherung - ein weiteres Kryptex. In diesem befindet sich schließlich ein Papyrusstück mit verschlüsselter Botschaft. Versucht man das Artefakt gewaltsam zu öffnen, zerbricht im Inneren eine mit Essig gefüllte Phiole und zerstört den Papyrustext. Einfach und genial. Der Schlüssel zum Schließfach war hinter dem Gemälde "Felsgrottenmadonna" versteckt. Der Maler des Bildes? Richtig! Leonardo. Immer wieder gab das Renaissancegenie Hinweise auf die wahre Natur des Grals, sei es im "Letzten Abendmahl", wo Magdalena zur Rechten Christi sitzt und von Petrus (Symbol für die Amtskirche) bedroht wird oder im Lächeln der "Mona Lisa", die mit ihren durch Sfumato-Technik erzeugten androgynen Zügen Symbol der Dualität des Göttlichen ist.

Nach all dem erübrigt es sich fast schon zu erwähnen, dass da Vinci selbst Oberhaupt des Priorats von Zion gewesen sein soll, wie die 1975 in der Pariser Nationalbibliothek entdeckten "Dossiers Secrets" behaupten. 26 Nautioniers (= Großmeister) der geheimen Gralsgesellschaft werden darin angeführt, darunter klingende Namen wie Nicolas Flamel, Sandro Botticelli, Isaac Newton, Victor Hugo, Claude Debussy oder Jean Cocteau.

Sub rosa
Langdon und Begleiterin schaffen es, "O, Draconian Devil!" bzw. "Oh, lame saint!" als Anagramme für "Leonardo da Vinci" und "The Mona Lisa" richtig zu enträtseln. Doch schon wartet in einer Schatulle - versteckt unter einer geschnitzten Rose - ein weiteres Rätsel Leonardos. Nicht nur dass die Rose als Symbol erneut auf das göttlich Weibliche hinweist, war "unter der Rose" (sub rosa) im antiken Rom auch ein geflügeltes Wort für "unter dem Mantel der Verschwiegenheit". Da Vinci liebte Doppeldeutigkeiten dieser Art. In Form seiner berühmten Spiegelschrift steht unter der Rose ein Gedicht in Jambusform, verfasst in Englisch, der lingua pura, die für Gegner der Amtskirche deshalb als "rein" galt, weil sie in früheren Jahrhunderten vom katholischen Klerus offiziell nicht gesprochen wurde. In einem weiteren Poem liegt ein nächster Hinweis auf den Gral.

In London lies a knight a Pope interred
His labor’s fruit a Holy wrath incurred
You seek the orb that ought be on his tomb
It speaks of rosy flesh and seeded womb

Von der französischen Polizei verfolgt, fliehen Robert und Sophie nach England. Allerdings mit tatkräftiger Unterstützung des blasierten und steinreichen Sir Leigh Teabing, seines Zeichens weltweite Nummer eins unter allen Gralsforschern. In London kommt es zum Showdown in der altehrwürdigen Westminster Abbey, unweit des Sarkophags von Sir Isaac Newton. Silas, ein Albino-Mönch im Dienste des erzkatholischen Opus Dei, erscheint. Er hat den Auftrag, dafür zu sorgen, dass das Geheimnis des Grals weiterhin ein Geheimnis bleibt. Dem Opus Dei liegt viel daran, alle Beweise zu beseitigen, die belegen könnten, dass Christus eine Tochter hatte. Schließlich würde eine Wahrheit dieser Art die Lehre der römisch-katholischen Kirche in ihren Grundfesten erschüttern. Gegen Ende von "Sakrileg" wird die wahre Natur des "Lehrers" offenbar, jener Person, welche die Morde an den Prioratsführern in Auftrag gab.

Selbstplagiat
Wer "Illuminati" nicht gelesen hat, dem mag "Sakrileg" als Meisterwerk erscheinen. Der Roman ist flüssig und spannend geschrieben, Längen hat er auf über 600 Seiten nie. Doch einen bitteren Wermutstropfen gibt es zu schlucken: Dan Brown wurde zum Epigonen seiner selbst, denn der Handlungsrahmen ist nahezu identisch mit jenem aus "Illuminati". Nur die Namen der Orte und Personen ändern sich. Der Vatikan wird durch den Louvre ersetzt, Antimaterie durch den Gral, die Illuminati-Geheimorganisation durch das Prieuré de Sion, Bernini durch Leonardo, der Assassine durch Silas, Janus durch den "Lehrer", Vittoria Vetra durch Sophie Neveu. Außerdem setzt Dan Brown zu sehr auf speed kills: In nur zwei Tagen läuft die Handlung ab, alle Protagonisten sind stets topfit; egal ob Tag oder Nacht zu Bestleistungen bereit. Leidtragende dieses Tempos im Stil von "Indiana Jones" ist die Glaubwürdigkeit.

Trotz aller Kritik bleibt "Sakrileg" ein empfehlenswertes Buch, das in einfacher Form grundlegende Fragen über den Wahrheitsgehalt der offiziellen Geschichtsschreibung aufwirft. Bekanntlich diktieren ja immer die Sieger, was in die Annalen eingeht und was nicht. Verlierer nehmen ihre subjektive Wahrheit meist mit ins Grab. Ihre einzige Zuflucht bleibt das Reich der Legende.

(lostlobo; 07/2004)


Dan Brown: "Sakrileg"
(Originaltitel "The Da Vinci Code")
Deutsch von Piet van Poll.
Gebundene Ausgabe:
Lübbe, 2004. 605 Seiten.
ISBN 3-7857-2152-8.
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Hörbuch:
Sprecher: Wolfgang Pampel.
Lübbe, 2004. 4 Audio-CDs.
ISBN 3-7857-1407-6.
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