Dan Brown: "Illuminati"


"Erwecke alte Furcht zu neuem Leben und dann vernichte sie." Das ist der Schlüssel zur "Erleuchtung" im Roman "Illuminati".

Urknall im CERN

Leonardo Vetra arbeitete am Europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf, an jener Einrichtung, wo aus Dutzenden Ländern und Hunderten Universitäten die klügsten Physiker ihrer Zeit zusammenkommen, um der Natur selbst die klitzekleinsten Geheimnisse zu entreißen. Vetra war die Koryphäe auf dem Gebiet der Elementarteilchenforschung. Im Gestein tief unterhalb des CERN experimentierte er mit dem Large Hadron Collider (LHC), einer 27 Kilometer langen, perfekt kreisförmigen Maschine, in der subatomare Partikel mit extrem hoher Geschwindigkeit aufeinandergejagt werden. Als er wieder mal Partikelstrahlen zur Kollision gebracht hatte, geschah das Unglaubliche: Zum Zeitpunkt der maximalen Energiedichte erschienen - ohne Vorzeichen - im Inneren des LHC Materieteilchen. Leonardo Vetra war ein Urknall im Kleinen gelungen, eine creatio ex nihilo, er hatte aus Energie Materie geschaffen - und mit ihr Antimaterie. Seine bahnbrechende Entdeckung sollte ihn das Leben kosten. Gebrandmarkt mit dem Schriftzug der Illuminati, einer für tot gehaltenen Geheimgesellschaft, findet man ihn leblos in seinem Labor auf. Und ein viertel Gramm der Antimaterie ist gestohlen, mehr als genug, um sie als Waffe mit unglaublicher Zerstörungskraft einzusetzen.

Bereits die Einleitung ist charakteristisch für Autor Dan Brown. In seinen Romanen begibt er sich stets an die vordersten Fronten des wissenschaftlichen Forschungsstandes. Nichts ist dabei an den Haaren herbeigeholte Spinnerei, sondern Science-Fiction im besten Sinne des Wortes. Das CERN in Genf ist ebenso Realität wie der LHC; Forschungen über Urknall und Antimaterie laufen dito. Brown nimmt gewisse Entdeckungen der (nahen?) Zukunft einfach nur vorweg. Ebenso wenig Zweifel gibt es über die Vergangenheit, sprich die einstige Existenz der Illuminaten. Wenngleich sich um Absichten, Mitgliedernamen, Infiltrationsversuche und Ende des elitären Zirkels wildeste Verschwörungstheorien ranken.

Erstkontakt mit den "Erleuchteten"
Um dieses Dickicht an Konspirationstheorien ein wenig zu lichten, fixiert Dan Brown den fiktiven Harvard-Professor Robert Langdon als Zentralfigur in "Illuminati" (im Engl. "Angels & Demons"). Langdon wird als weltweit anerkannter Symbolologe beschrieben. Nach der grausigen Ermordung Leonardo Vetras zieht ihn CERN-Chef Maximilian Kohler persönlich zu den Ermittlungen hinzu. Alsdann führt der Harvard-Gelehrte den Leser in die Geschichte der Illuminaten-Geheimgesellschaft ein, die als Antwort auf Repressalien entstanden war. Seit vielen Jahrhunderten hatte die römisch-katholische Kirche wissenschaftlichen Fortschritt unterdrückt und führende Forscher ermorden lassen - alles zur höheren Ehre Gottes. Um das Jahr 1500 regte sich in Rom organisierter Widerstand gegen diesen Terror des Klerus. Einige wenige, dafür umso genialere Astronomen, Mathematiker und Physiker trafen sich heimlich, um sich wegen der unrichtigen Lehren des Papsttums auszutauschen. "Sie fürchteten, dass das kirchliche Monopol auf die 'Wahrheit' den weltweiten akademischen Fortschritt behindern könnte", wie Langdon sagt. "Also gründeten sie die erste wissenschaftliche Denkfabrik in der Geschichte der Menschheit und nannten sich 'die Erleuchteten' " - "Illuminati".

Hiermit hat Dan Brown den Leitfaden für den Roman festgelegt: den bis in die Gegenwart anhaltenden ideologischen Konflikt zweier Glaubenssysteme - Religion versus Wissenschaft. Alle weiteren Handlungen des Romans reihen sich in diese Grundkonfrontation ein.

Antimaterie unterm Vatikan
Und es geht Schlag auf Schlag. Ganz nebenbei erfährt der Leser, dass 15 Tage zuvor der Papst gestorben war. Sofort keimt der Zweifel. Einfach krankheitsbedingt dahingegangen? Oder ermordet? Reicht der Arm der Illuminati bis ins Innerste des Vatikans? Es hat allen Anschein, denn irgendwo versteckt im Kirchenstaat steht ein Behälter mit prekärem Inhalt, nämlich der vom CERN entwendeten Antimaterie. Antimaterie verhält sich wie Materie, alles ist gleich, außer, dass sie entgegengesetzt geladen ist. Trifft Antimaterie auf Materie - sei es auch nur Luft - löschen sich beide durch so genannte Annihilation augenblicklich aus. Bei der im Roman gestohlenen Menge entspräche dies einer Sprengkraft von fünf Kilotonnen TNT (einer Viertel-Hiroshimabombe). Um einem irrtümlichen Malheur vorzubeugen, hatte Vetra das gefährliche Gut in einer "Antimateriefalle" aufbewahrt; einer Apparatur, in deren Innerem Vakuum herrscht, gesichert von Magnetfeldern, damit die Antimaterie nicht mit Materie reagieren kann. Allerdings ist der ganze Schutzmechanismus batteriebetrieben - mit einer Energiedauer von 24 Stunden. Der Countdown läuft unaufhaltsam. Langdon, CERN und Vatikan bleiben nur wenig Zeit, den Behälter aufzuspüren bzw. zu entschärfen. Gelingt dies nicht, würde rund um den Petersplatz wohl nur mehr ein tiefer Krater klaffen, dem Höllenschlund gleich. Und die Illuminaten hätten mit den Mitteln der Wissenschaft erfolgreich zum ultimativen Schlag gegen das Glaubenszentrum der Christenheit ausgeholt.

Der Assassine
Für die Ermordung Leonardo Vetras hatte Janus, das zwielichtige Oberhaupt der vermeintlichen Illuminati, einen professionellen Killer beauftragt; einen Araber. "Seine Diskretion wird nur von seiner tödlichen Effizienz übertroffen", heißt es. Er steht in der Tradition der alten Hashishim, der Haschischesser, einer mittelalterlichen Truppe von Meuchelmördern und Selbstmordattentätern, die Kreuzrittern und allzu toleranten Sultanen die Lebenslichter gleichermaßen ausblies. Der Assassine möchte den Vatikan ein für alle mal ausradiert, die Tausenden während der Kreuzzüge niedergestreckten Muslime gerächt sehen. Er ist der getreue Diener Janus’, noch ist seine Aufgabe nicht ganz erfüllt. Nach dem Tod des Papstes sind 165 Kardinäle in Rom versammelt, um im Konklave den neuen Pontifex Maximus zu wählen. Vier von ihnen, il preferiti, die aussichtsreichsten Kandidaten auf den Stuhl Petri, wird er entführen und an vier öffentlichen Orten töten; gebrandmarkt mit den Ambigrammen der Illuminati, als Tribut an die vier Grundelemente der Wissenschaft: Erde, Luft, Feuer und Wasser - und als Rache für vier Wissenschafter, welchen die Kirche 1686 das Kreuzsymbol einbrannte, ehe sie tot auf die Straße geworfen wurden. Zur Abschreckung für alle Illuminaten. Nun ist die Zeit der Rache. Quid pro quo.

Ambigramme
Ein Ambigramm ist ein Symbol oder Schriftzug, das/der aus entgegengesetzten Richtungen betrachtet, gleich aussieht; Davidstern, Swastika oder Yin-Yang-Zeichen etwa. Dan Brown machte sich die Mühe, mit John Langdon einen zeitgenössischen Künstler hinzuzuziehen, der sich der schwierigen Aufgabe stellte, die Wörter Illuminati, Earth, Air, Fire und Water als Ambigramm darzustellen. Nicht genug: Die Bezeichnungen der vier Elemente mussten schlussendlich zu einem einzigen Symbol, dem "Diamanten der Illuminati" vereint werden. Ein ausgeklügeltes Extra, das "Illuminati" sehr positiv von 08/15-generierter Kriminalliteratur unterscheidet.

Galileos Zeichen
Robert Langdon ist derweil - gemeinsam mit Vittoria Vetra, der Tochter des ermordeten CERN-Forschers - auf der Fährte des Assassinen. Innerhalb weniger Stunden muss er das Versteck des Killers ausfindig machen und ihn überführen, ehe die Antimaterie hochgeht. Doch wo in Rom anfangen? Langdon sucht nach "il segno", jenem geheimen "Zeichen", das einen anleitet, wie man zur alten Zentrale der Illuminati - genannt "Kirche der Erleuchtung" - kommt. Generationen von Experten hatten vergeblich danach geforscht. Doch sie hatten nicht jenen Zugang zu hermetisch gehüteten Bibliotheken, der Robert nun offen steht. Tief verborgen in den Vatikanischen Archiven findet er dieses "Zeichen" in einem Traktat Galileo Galileis - es ist ein fünfhebiger Jambus aus der Feder John Miltons. Galilei, Milton, ebenfalls Illuminaten? Höchstwahrscheinlich.

Kreuzweg durch Rom
Das fünfzeilige Gedicht ist ein Rätsel, das gleichzeitig als Auslesekriterium gedient hatte. Nur die klügsten Köpfe sollten das Zentrum der Illuminati aufzuspüren imstande sein - sie wollten schließlich keine Tölpel in ihrer Mitte. Mit der Verve des Harvard-Symbolologen erreicht Langdon die erste Station auf dem "Pfad der Erleuchtung"; es ist die Chigi-Kapelle, ein mit Pyramiden und Himmelszeichen versehener Ort, der bei näherem Hinschauen gar nicht christlich wirkt. Hier findet er, in einem Knochenloch liegend, mit Erde erstickt sowie mit dem Ambigramm "Earth" gebrandmarkt den ersten der vier entführten Kardinäle vor. Eine Skulptur Berninis (ein weiterer Illuminat!) weist ihm den Weg zum Petersplatz. Dort, am Fuße eines Obelisken, beim Relief "Westwind", liegt mit zerstochenen Lungen die Leiche des zweiten Kardinals. Wieder dechiffriert Langdon Berninis Hinweis zur nächsten Station, die Kirche Santa Maria della Vittoria. In ihr findet der dritte Kardinal, an Ketten aufgehängt, seinen Flammentod. Vittoria wird vom Assassinen entführt - er will sie als lustspendende Belohnung für sich behalten. Robert entgeht nur knapp dem Tod, doch er hetzt weiter am "Pfad der Erleuchtung" , hin zum Vier-Strom-Brunnen auf der Piazza Navona, in dem der vierte Kardinal sein gewaltsames Ableben durch Ertränken findet. Wieder überlebt Robert Langdon den Kampf gegen den Assassinen nur wie durch ein Wunder. Die mörderische Schnitzeljagd nähert sich ihrem Ende. Langdon hat das Muster von Berninis "Pfad der Erleuchtung" durchschaut. Auf den Stadtplan übertragen ergibt es ein riesiges gleichachsiges Kreuz, das altägyptische Symbol für die vier Elemente. Mitten in Rom, vor den Augen des katholischen Erzfeindes, war den Illuminati diese geometrische Genialität gelungen. Mehr noch, der letzte "Altar der Wissenschaft", das allergeheimste Zentrum, liegt in Blickweite der päpstlichen Residenz - eine Verhöhnung allererster Klasse. Langdon macht sich auf den Weg dorthin, um Vittoria und den Kirchenstaat vor dem Ende zu bewahren.

Der Camerlengo
Janus hatte inzwischen dem Assassinen befohlen, die Massenmedien zu informieren. Sie sollen Zeugen der Macht der Illuminati werden; mit ansehen wie die vier toten Kardinäle gebrandmarkt mit den Ambigrammen der vier Elemente tot daliegen; alle Welt Anteil haben lassen, wie der Vatikan, der Hort der Fortschrittsfeindlichkeit, von der Antimaterie in Nichts aufgelöst wird. Doch Janus kann seine Rechnung nicht ohne den Camerlengo Carlo Ventresca machen. Der Camerlengo ist der Kammerdiener des Papstes, der nach dem Tod seines Herrn bis zur Wahl eines neuen Oberhirten dessen Amtsgeschäfte innehat. Mit tiefer Traurigkeit und Überzeugung tritt Ventresca vor die Kameras der BBC, sodass er live rund um den Globus zu hören und zu sehen ist. Geschickt gesteht er Fehler der Kirche ein, aber immer auch mit dem Hinweis auf die katastrophalen Erfindungen der Wissenschaft: "Wer ist unwissender, der Mensch, der nicht weiß, wie der Blitz zustande kommt, oder derjenige, der die furchtbare Kraft des Blitzes ignoriert?" Seine Rhetorik ist doppelköpfig, doch der Camerlengo reicht den Illuminati die Hand zur Versöhnung, er gibt von sich, den Jahrhunderte währenden Krieg beenden zu wollen: "Gemeinsam können wir von diesem Abgrund zurücktreten".

Wie wird Janus auf den katholischen Hoffnungsträger reagieren, auf einen Mann, der nicht mal die Kardinalswürde besitzt, auf eine bisher unbekannte Größe? Werden die Illuminaten einlenken und das genaue Versteck der Antimaterie verraten? Es scheint, als sitze nun alle Welt gebannt vor den Fernsehgeräten und warte auf das Wunder, das die Tausenden singenden Christen verzückt auf dem Petersplatz herbeirezitieren. Kann der Camerlengo, ein einfacher Priester, der Christenheit neue Glaubensstärke einhauchen? Wer ist der "Samariter der 11. Stunde", den er in den wenigen bis zur Annihilation noch verbleibenden Minuten zum Vieraugengespräch treffen wird?

Wenn Fragen mächtiger als Antworten sind
Der weitere Fortgang des Romans soll in dieser Rezension im Dunklen bleiben. Die Leser mögen ab nun selbst Schlüsse ziehen und Vermutungen anstellen, Identitäten wie moralische Standpunkte zur Diskussion stellen. Der eingangs des Buches ermordete Leonardo Vetra warf seinerseits elementare Fragen auf. Sind Glaube und Forschung zu vereinen? Sind Schöpfung und Urknall ident? Als gläubiger Katholik und überaus begabter Naturwissenschafter hatte er das Rüstzeug dazu gehabt, Antworten mitzuliefern. Sein "Urknall im Labor" sollte die biblische Kreationsgeschichte analytisch untermauern, den Beginn der "Neuen Physik" einläuten, einer Symbiose aus Spiritualität und Physik, die Gott in allem, nicht separiert von allem sieht. Religion und Wissenschaft als "zwei verschiedene Sprachen, die die gleiche Geschichte erzählen". Vetra geriet seine Weisheit zum Todesurteil, denn Dogmatiker beider Glaubenssysteme, des geistlichen wie des weltlichen, sahen darin Sakrileg und Verrat. Leonardo Vetra erlitt das Schicksal derer, die Fragen stellen, welche viel mächtiger als die Antworten sind ...

(lostlobo; 06/2004)


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(Originaltitel "Angels & Demons")
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