Diane Broeckhoven: "Ein Tag mit Herrn Jules"
Ein ganz besonderer
Abschied
Alice und Jules sind ein Ehepaar jenseits
der siebzig. Sie haben ein sehr fixes Ritual, wie sie ihren Tag gestalten. Und
so steht Jules auch an diesem von dichtem Schneetreiben durchzogenen Tag auf,
um Kaffee zu kochen und sich danach auf die Wohnzimmercouch zu setzen. Als Alice
ihm bald
darauf folgt, muss sie feststellen, dass Jules offenbar
seinen letzten Atemzug getan hat. Hin und her gerissen, was sie nun tun solle,
beschließt sie noch einen Tag mit ihrem toten Geliebten zu verbringen, um von
ihm Abschied zu nehmen und ihm noch alles zu erzählen, was sie nie erzählt hat.
Bald darauf wird sie von der Realität
eingeholt: David, der autistische Junge aus der Wohnung drei Stockwerke tiefer,
kommt um seine tägliche Schachpartie mit Herrn Jules zu spielen; daraus
entwickelt sich eine ganz neue Beziehung zwischen Alice und David.
Diane Broeckhoven ist eine einmalige Novelle gelungen. Sie versteht es, mit
der Sprache so zu spielen, dass dieser Tag nur sehr langsam verrinnt, obwohl
das Buch nur 92 Seiten hat. Sie lässt Alice ganz langsam und intensiv Abschied
nehmen, besonders dadurch, dass Teile aus dem gemeinsamen Leben Revue passieren.
Das Buch ist
auf der emotionalen Ebene extrem dicht und drückt dennoch nicht billig auf die
Tränendrüse. Der Protagonistin wird auf so wenig Platz so viel Persönlichkeit
gegeben, wie in vielen anderen Büchern auf 500 Seiten nicht - am Schluss ist man
überzeugt, dass Alice und Jules ein perfektes Leben gelebt haben - und dieser
Abschied die einzig logische Möglichkeit war.
Ein Buch, wie man es nur
sehr selten zu lesen bekommt; für mich ebenso beeindruckend, wie Coelhos "Veronika
beschließt zu sterben", Süskinds "Die Taube" oder auch Merciers "Nachtzug nach
Lissabon".
(Reinhold Stansich; 01/2005)
Diane Broeckhoven: "Ein Tag mit Herrn
Jules"
(Originaltitel "De buitenkant van Meneer Jules")
Aus dem
Niederländischen von Isabel Hessel.
C.H. Beck, 2005. 92 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Diane Broeckhoven wurde 1946 in Antwerpen
geboren. Sie hat rund zwanzig Jugendbücher veröffentlicht, für die sie mit bedeutenden
Literaturpreisen ausgezeichnet wurde. "Ein Tag mit Herrn Jules" ist ihr zweites
Buch für Erwachsene.
Weitere Bücher der Autorin:
"Eine Reise mit Alice"
In Diane Broeckhovens Buch begegnet man buchstäblich einer alten Bekannten:
Alice, die nach dem Tod von Jules, ihrem Mann, ihrem Leben eine neue Richtung zu
geben versucht und feststellt, dass es sie an Orte ihrer gemeinsamen
Vergangenheit mit Jules führt oder dorthin, wo sie am Ende gar nicht bleiben
will. Dabei ist Alice keineswegs weltfremd, sentimental oder voller Altersgrimm
gegen die Gegenwart erfüllt. Mit Selbstironie und Humor, dankbar und offen,
aber eben voller Sehnsucht nach dem Leben mit Jules beobachtet sie die Welt und
wünscht sich auf ihren Reisen doch, bald wieder nach Hause fahren zu können.
Ein komischer und zugleich rührender Höhepunkt in "Eine Reise mit Alice"
ist das Kapitel "Ostende", das von Alice’ Besuch bei ihrer jüngeren
Schwester Esther in deren Ferienwohnung erzählt und zeigt, wie sehr die prägenden
Gefühle die gleichen bleiben, auch wenn Jahrzehnte vergangen sind.
Einfühlsam und genau, liebevoll und mitunter nicht ohne Sarkasmus erzählt
Diane Broeckhoven von den Empfindungen und Gedanken, den Erlebnissen und Sehnsüchten
einer alternden Frau, die sich nach dem Tod ihres Mannes, nach dessen ewiger
Rechthaberei sie sich inzwischen sogar sehnt, nicht einfach in die Riege der
"lustigen Witwen" mit ihrem krachenden Lebenshunger einordnen will,
sondern auch allein auf einem gemeinsamen Leben beharrt. Nicht nur jene Leser,
die "Ein Tag mit Herrn Jules" liebten, werden "Eine Reise mit
Alice" ins Herz schließen. (C.H. Beck)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Tage mit Goldrand"
Seit Elise, fast 17, den eigenwilligen Musikstudenten Franz mit dem roten Wuschelkopf
kennen gelernt hat, sind die Tage viel zu kurz geworden. Elise erlebt ihre erste
große Liebe, Tage mit Goldrand. Sie weiß aber auch, dass Franz seine eigenen
Wege gehen wird und sich nicht anbinden lässt ... (Ab 14 J.)
Buch bei amazon.de bestellen
"Herrn Sylvains verschlungener Weg zum Glück" zur Rezension ...
Leseprobe:
Es hatte geschneit.
Alice schaute aus dem Fenster und sah unten die weiß leuchtende Straße. Sie
hüllte sich in den Morgenmantel und versuchte so, die Wärme des Bettes unter
dem blauen Frotteestoff zu bewahren. Den Gürtel zog sie stramm um ihre Taille
und steckte die Hände in die Taschen. Bea, die unter ihnen wohnte, kehrte im
gelblichen Schein einer Straßenlaterne auf dem Bürgersteig vor dem Haus Schnee.
"Die ist auch immer nur am Ackern", dachte Alice.
Sie blieb stehen und hörte zu, wie sich Rauschen und Schaben von Besen und Schaufel
immer wieder abwechselten, eine Fanfare in der Ferne, die nicht näher kam. Fröstelnd
ging sie in die Richtung, aus der der Kaffeeduft kam.
"Es hat geschneit, Jules", sagte sie zum Hinterkopf ihres Mannes, der über die
Rückenlehne des Sofas ragte. Meistens wartete er in der Küche am Frühstückstisch
auf sie, der immer auf die gleiche Weise gedeckt war. Jules antwortete nicht,
was ihr ein Lächeln entlockte. Bestimmt starrte er wehmütig in den Schnee und
dachte dabei an früher, als es noch richtige Winter gegeben hatte. Eisig und
rauh. Langsam kam sie näher, gebremst durch ihre steifen Knie. Aus einem Impuls
heraus legte sie kurz die Hand auf sein schütteres Haar. Sacht auftretend ging
sie um das Ledersofa herum und setzte sich neben ihren Mann. Daß er von seinen
eigenen Hausregeln abwich, um durch die Wand aus Glas die Schneelandschaft in
sich aufzunehmen, stimmte sie mild. Auf diese Weise bekam sie selbst unerwartet
ein Stückchen Freiheit geschenkt. Die Pflicht rief sie noch nicht gleich.
Sie rückte näher an ihn heran und spürte die Wärme seiner Schulter an ihrer.
Kurz neigte sie den Kopf zur Seite, bis der rauhe Stoff seiner Jacke ihre Wange
kratzte.
"Es ist irgendwie hell und
dunkel zugleich", sagte sie und lächelte ihr Spiegelbild in der großen Fensterscheibe
an.
Jules erwiderte nichts. Reglos blieb er neben ihr sitzen, mit den Händen auf
den scharfen Bügelfalten der Hose. In der Küche hörte sie, wie die letzten Tropfen
durch die Kaffeemaschine fielen, dann das Finale aus Dampfen und Schnauben.
In der lärmenden Stille, die darauf folgte, drang die Wirklichkeit zu ihr durch.
"Jules!"
Ihre Stimme brach mit Kraft aus ihrer Kehle hervor, wie ein Vogel, der aus dem
Gebüsch aufschreckt. Sie schüttelte und schlug ihn, bekam aber keine Bewegung
in den starren Körper.
"Jules!"
Wieder ein Vogel. Ein kleiner, scheuer.
Er reagierte nicht. Schwerfällig bewegte er sich mit, als sie ihn mit klauenartig
gekrümmten Fingern bei den Schultern packte. Jules war tot. Sie konnte es nicht
fassen. Im glückseligsten Moment ihres Tages, ihrem Gebärmutterhalbenstündchen,
war er gestorben. Doch vorher hatte er noch seine Pflicht getan. Er hatte den
Tisch gedeckt und Kaffee aufgesetzt.
Es kam ihr so merkwürdig
vor, daß sie neben ihm gesessen hatte und einfach davon ausgegangen war, daß
er lebte. Sie hatte mit ihm gesprochen und gedacht, er würde aufstehen, mit
ihr in die Küche gehen und sich an den gedeckten Tisch setzen. Dieser Gedanke
beruhigte sie. Jules würde erst dann wirklich tot sein, wenn sein Sterben bis
ins Mark zu ihr durchgedrungen war. Bisher traf die Wahrheit lediglich von außen
zu, an den äußeren Enden ihrer Nerven. Wie Nieselregen sickerte die Wahrheit
durch ihre Poren ein. "Für die Hinterbliebenen ist es immer schlimm", flüsterte
sie, und die Oberflächlichkeit dieser lächerlichen Bemerkung beruhigte sie einen
Moment lang. Sie legte ihre noch bettwarme Hand auf seine, die sich kühl anfühlte.
Aber nicht kalt.
Natürlich hatten sie
übers Sterben
geredet, ihre Angst davor, sich in menschliche Wracks zu verwandeln, miteinander
geteilt. Jules reagierte immer gereizt, wenn sie sagte, sie fände es gar nicht
so tragisch, dement zu werden. Es erschien ihr wie ein recht sorgloses Dasein.
Nichts mehr regeln müssen, Schwestern, die einem geduldig das letzte bißchen
Leben einlöffelten, die Freundinnen aus dem Kindergarten und die ersten heimlichen
Liebhaber, die unerwartet vorbeikamen. Vor allem mit Letzterem konnte sie ihren
Mann auf die Palme bringen. Er war ihr erster Liebhaber gewesen, er hatte sie
ins Leben und in die Liebe eingeweiht. Sogar fünfzig Jahre später duldete er
keine Scherze über sogenannte Rivalen.
"Denk doch auch mal an die Hinterbliebenen und nicht nur an dich selbst", sagte
er dann. "Stell dir vor, du würdest mich nicht mehr wiedererkennen. Auch Hermann
nicht, oder die Enkel."
Tja, das war dann das Problem der Hinterbliebenen, dachte sie. Doch diesen völlig
auf sich selbst bezogenen Gedanken sprach sie nicht aus. Ihr kam das so friedlich
vor, auf der Schwelle des Todes in einer Nebelbank zu verschwinden, wo Erinnerungen
langsam verblaßten und Geräusche verebbten. Sie fand es sogar romantisch, wenn
das Leben auf diese Weise erlosch. Wie am Ende eines französischen Films, wenn
sich die Farben in einem Panorama aus Pastell brachen. Fin!
Es hatte Momente gegeben, da hatte sie das starke Bedürfnis gehabt, Jules nicht
wiederzuerkennen. Doch er war ihr in die Haut eingebrannt. Niemals würde er
für sie unsichtbar sein.
Plötzlich sterben, ohne Schmerzen, ohne Angst, das wäre seine Wahl, wenn er
eine hätte. Wie der Stoß einer riesigen Hand in den Rücken, ohne jede Chance,
sich dagegen zu wappnen. Das Gefühl, das eine Fliege in dem Sekundenbruchteil
haben muß, wenn sich die zusammengerollte Zeitung über ihren schutzlosen Körper
erhebt. Das fand Alice dann schlimm für die Hinterbliebenen. Und unverschämt,
so ganz ohne jedes Vorzeichen einfach aus dem Leben zu verschwinden.
Wenn Jules also nicht wollte, daß sie dement wurde, dann wäre sie doch für ein
schönes, tiefsinniges Sterbelager. Nicht zu lang, nicht zu kurz. Schmerzen und
menschenunwürdige Körperlichkeiten wie Windeln oder blauverfärbte Gliedmaßen
verdrängte sie. Sie würde in einem warmen Nachthemd unter frischgebügelten Decken
liegen, mit silbergrau getöntem Haar und manikürten Nägeln. Sie würde Jules
alles sagen können, was sie fünfzig Jahre lang in sich hineingefressen hatte.
Daß sie ihn haßte und daß sie ihn liebte. Daß sie manchmal am liebsten weggelaufen
wäre und daß sie froh war, geblieben zu sein. Daß sie hatte frei sein wollen
und sich mit jeder Faser an ihn gebunden fühlte. Dinge, die man sich vor dem
Hintergrund der Alltagssorgen nicht sagt. Sie würden sich bei den Händen fassen
und einander vergeben. Alles. Jules’ Kiefergelenk würde sich nur kurz unter
seiner schlaffgewordenen Haut bewegen, für sie das Zeichen, einzulenken. Unter
diesen endgültigen Umständen würde er sich allerdings beherrschen. Er würde
nicht böse werden, ihr keine Vorwürfe machen. Er würde sie in Ruhe sterben lassen.
Sie schon vermissen, bevor sie Kraft sammelte für ihren letzten Atemzug.
Alice ging so in ihrer
Phantasie auf, daß sie für einen Moment vergaß, daß sie jetzt die Hinterbliebene
war. Als ihr das Unabwendbare plötzlich wieder einfiel, traten ihr Tränen in
die Augen. Sie wischte sich über die Wange und stupste mit ihren nassen Fingern
kurz gegen Jules‘ Handrücken. Die feuchte Kälte des Todes grub sich Gänge unter
seiner Haut. Sie erhob sich, nahm das weiße Licht in sich auf, das erbarmungslos
ins Zimmer leuchtete. Danach setzte sie sich auf den Couchtisch aus Eichenholz,
ihrem Mann direkt gegenüber. Unschlüssig. Sie studierte sein Gesicht. Die Augen
waren halbgeschlossen wie bei einem Kind, das mitten im Spiel vom Schlaf übermannt
worden war. Um die Lippen - bildete sie sich das ein oder waren sie bläulich?
- spielte der Schatten eines Lächelns. Hatte er die große Hand hinter sich gespürt,
die ihn über die Grenze zwischen
Leben und
Tod gestoßen hatte? Nun erst entdeckte
sie seine Brille auf dem Boden. Sie hob sie auf, wischte mechanisch die Gläser
mit einem Zipfel ihres Bademantels sauber und schob sie vorsichtig auf Jules’
Nase.