Sebastian Brock: "Silbersee"
Tiefdüsteres
Szenarium aus der forensischen Psychiatrie
Es ist ein Silbersee, der seinen Namen nicht
von einem Schatz hat, sondern von den Fischen, die kieloben
an seiner Oberfläche treiben. Und gestrandet wie die toten
Fische erscheinen dem Leser auch die Menschen in der Klinik
für forensische Psychiatrie, die an diesem Silbersee liegt und
die Hauptschauplatz von Sebastian Brocks Erstlingswerk ist. Gestrandet
in einer Atmosphäre frostiger Emotionslosigkeit, in einer
vergifteten Atmosphäre, könnte man schon sagen, die
viel mehr den Eindruck von Knast als von Klinik erweckt.
Ein junger Arzt, Konrad Walser, beginnt hier seinen ersten Arbeitstag.
Aus Walsers Perspektive wird der Krankenhausalltag beschrieben, aber
auch nur teilweise, denn der junge Arzt tritt einmal als
Ich-Erzähler auf, einmal als Handelnder in der dritten Person.
Der Zeitraum seiner Tätigkeit in der Klinik, um den es hier
geht, erstreckt sich etwa über ein halbes Jahr.
All die Menschen in dieser psychiatrischen Klinik am Silbersee wirken
irgendwie unpersönlich, unnahbar, eingekapselt in einen
gefühlsabweisenden Panzer, ob es sich nun um die Patienten
handelt, oder ob sie den Ärzten oder dem Pflegepersonal
angehören. Sebastian Brock, der selber als Arzt in einem
Krankenhaus in Chemnitz arbeitet, zeichnet also ein trostloses,
düsteres Bild von den Zuständen in der forensischen
Psychiatrie am Silbersee, Zustände, die hoffentlich nicht
beispielhaft sind für Institutionen dieser Art in Deutschland.
Brock beschreibt nämlich nicht nur eine Art von
geistig-therapeutischer Bankrotterklärung seitens der
Mediziner, nein, mehr noch, die Blüten schizophrenen
Innenlebens sprießen auch aus dem Verhalten von Pflegern und
Ärzten hervor.
Gleichzeitig
mit dem Arzt Konrad Walser wird ein junger Sexualstraftäter
und Mädchenmörder eingeliefert, der Walsers erster
Patient wird. Walser versucht, ein Vertrauensverhältnis zu ihm
aufzubauen, scheitert aber mit seinem Vorhaben. "Ich weiß
nicht warum" ist die stereotype Antwort des Vergewaltigers und
Mörders auf die Fragen seines Arztes. Anscheinend
weiß niemand der im Roman handelnden Personen eine Antwort
auf die Warum-Frage zu geben. Kopf- und scheinbar ziellos wird der
ganze Irrsinn nicht therapiert, sondern nur verwaltet. Kopflos auch in
anderem Sinne, da die Chefärztin als bloßes Phantom
durch den Roman spukt, sie hat entweder Urlaub oder sie hat sich krank
gemeldet, totgesagt wird sie sogar, bis sie am Ende doch noch
für eine kurze Episode in Erscheinung tritt. "Das Affentheater
hat ein Ende. Ich verspreche Ihnen unnachgiebige Strenge. Ich
verspreche Ihnen Ordnung und Disziplin", droht sie ihrem Personal an.
Dieses angesprochene Affentheater erfährt seinen
Höhepunkt - nebenbei bemerkt - während einer
"Irrenhochzeit", wie die Presse es despektierlich nennt. "Im
Liebesknast am Silbersee züchten wir uns unsere Monster
heran", titelt eine Zeitung. Des gemeinen Volkes Stimme kommt also auch
zu Wort im Roman und findet die ihr gebührende Aufmerksamkeit.
Ja, es ist ein nur wenig Hoffnung spendendes Menschenbild, das uns
Sebastian Brock hier präsentiert. Manchmal wirkt das alles wie
ins Groteske übersteigert, was Brock uns kredenzt, eine
Groteske, die der Wirklichkeit aber vermutlich recht nahe kommt. Und
dazu weht dem Leser ein eisiger Hauch von Zynismus aus den Zeilen
entgegen.
Kühl wie die Klinikatmosphäre
ist auch der Stil des Autors, zu kühl, wie ich finde, so
kühl, dass er den einen oder anderen Leser vielleicht kalt
lässt. Und Brocks Sprache ist nicht nur unterkühlt
und schnörkellos, sie ist mitunter auch von rustikaler
Deftigkeit. Seine verhackstückten, abgerissenen Sätze
sind allerdings auf Dauer gesehen nur mit einem gewissen Wohlwollen
goutierbar. Aber immerhin vermittelt dieser konzise, gedrängte
Stil recht gut die Atmosphäre, die in der Klinik am Silbersee
herrscht. Was mich etwas gestört hat, ist das sich
ständig wiederholende "sagte ich, sagte sie, sagte er" im
Anschluss an die wörtliche Rede. Auch wenn es hier als Stil-
und Ausdrucksmittel dienen mag, (alle sagen sie etwas, sie fragen
nicht, sie antworten nicht, sie sagen einfach nur, aber in Wirklichkeit
sagt keiner etwas, denn scheinbar liegt nur im Ungesagten der
Schlüssel zum Verstehen der Menschen, um die es hier geht), es
wirkt auf mich etwas überstrapaziert, ebenso wie die
ständigen, scheinbar wahllos eingestreuten englischen Zitate
aus Elvissongs.
Sehr gut gelungen ist hingegen das Verweben der reinen, prosaisch
nüchternen Handlung mit der ihr zugrunde liegenden Symbolik,
die sich im Wasser des Silbersees, in den Fischen, den Vögeln,
der Katze und nicht zuletzt auch im "Zungenstein" des Doktor Walser
offenbart. Doch am Ende vermag auch der "Zungenstein" die Zunge seines
Patienten nicht zu lösen, beziehungsweise sein verschlossenes
Inneres nicht zu öffnen.
"Silbersee" ist ... wie ich finde, ein beachtenswertes Debüt
eines noch jungen Autors, der sich eines heiklen Themas angenommen hat
und auf dessen weitere Entwicklung man gespannt sein darf.
(Werner Fletcher; 12/2006)
Sebastian
Brock: "Silbersee"
Mitteldeutscher Verlag, 2006. 192 Seiten.
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Sebastian Brock, 1980 in Leipzig geboren, studierte Medizin in seiner Heimatstadt und in Barcelona. Parallel dazu absolvierte er das Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
Leseprobe:
Daniel und ich sind am gleichen Tag am Silbersee angekommen. An der
Endstelle stieg ich aus der Straßenbahn. Der Himmel war
weiß und die Sonne nur ein greller Fleck, der Silbersee eine
Stahlplatte zwischen den Feldern. Ich ging über
Kopfsteinpflaster auf das Krankenhaus zu und sagte dem alten Mann im
Pförtnerhaus meinen Namen.
- Ich fange heute als Arzt hier an, sagte ich. Er klopfte mit dem Stift
auf sein Kreuzworträtsel, die Fingernägel gelbbraun
wie Milchkaffee.
- Figur der
griechischen
Mythologie. Kam der Sonne zu nah. Sechs Buchstaben, sagte er.
Er goß Sahne in seinen Kaffee, rührte um und leckte
den Löffel mit seiner braunen Zunge ab.
- Station siebenundzwanzig, sagte ich. - Das Haus ganz hinten durch.
Die haben auch gerade einen Neuen bekommen, da müssen Sie
nicht alleine anfangen, sagte er und schrieb die Buchstaben in die
Kästchen. Ich ging die Pflastersteinstraße ins
Krankenhausgelände hinein. Die Bäume waren noch kahl
und sahen spröde aus. Ich ging in der Mitte der
Straße. Das Haus am Ende der Straße war aus roten
Backsteinen gebaut. Der Zaun ringsherum war höher als das
Haus. Die Fenster waren gelbe Rechtecke mit schwarzen Gittern davor.
Hinter mir hupte ein Auto. Ich trat zwischen die Bäume. Halten
Sie Abstand, ich hab Freunde am Silbersee, stand auf der Heckscheibe.
Das Auto hielt vor dem Backsteinhaus. Ein Mann stieg aus dem Auto und
wartete.
- Keine Angst, Herr Doktor! Ich bin vor dem Zaun, ich tue Ihnen nichts!
rief er. Mit jedem Schritt auf das Haus zu wurden die Drähte
des Zauns kräftiger und die Maschen kleiner. Der Mann streckte
mir die Hand hin, ich versuchte an ihm vorbei zu sehen, das
Backsteinhaus war hinter dem Zaun verschwunden.
- Sie sind doch der neue Doktor, hat Tenne von der Schranke gesagt.
Mein Name ist Gollner, ich bin der Stationspfleger. Sie kommen gerade
richtig. Bin eben mit den Brötchen fürs
Frühstück zurück. Ich nahm die Hand, sie war
groß und feucht. Gollner hob mir den Plastikbeutel mit den
Brötchen vors Gesicht. Er klingelte am Zaun.
- Keine Angst. Wir kriegen das schon hin, sagte er.