Leopoldo Brizuela: "Inglaterra"
Hommage an Shakespeare, die Ästhetik und das "allmächtige Wort" der Menschlichkeit
Was der argentinische Autor Leopoldo
Brizuela mit "Inglaterra" zu Papier brachte, ist gewiss eines nicht: eine linear
strukturierte Geschichte mit Einleitung, Hauptteil und Conclusio, geschweige
denn ist das Werk stringent. Kurzum, wer einen nach den Regeln einfacher
Mathematik konzipierten, logischen Roman lesen möchte, ist mit dem Buch falsch
bedient. Wem der Sinn allerdings nach poetisch geschmeidiger Sprache, Liebe zum
Extravaganten - und vor allem nach von Kunst statt von Künstlichkeit
durchfluteter Sinnsuche steht, die oder der wird hingebungsvoll Seite für Seite
bedient. Eine Grundvoraussetzung sollte vor der Lektüre von "Inglaterra"
allerdings gegeben sein: die Affinität
zu William Shakespeare und seinem
Oeuvre.
Wie ein mittelalterlicher Herold Stück für Stück sein Pergament
aufrollt, um eine wichtige Botschaft zu verkünden, so entrollt Brizuela die
Vorgeschichte von "Inglaterra" dem lesenden Auge. "Inglaterra" steht für
England, und genau dort nimmt alles im Nebel der Vergangenheit seinen Anfang.
Eine Prinzessin - vielleicht zu Zeiten des sagenhaften Artus - war einst von so
großer Melancholie befallen, dass nicht mal Merlins Zauber sie davon befreien
konnte. Da tauchten eines Tages die "Ritter der Rose" auf, rastlos
umherwandernde Poeten, die Worte komponierten, deren Schönheit heilender war als
jede Arznei. Es geschah, was geschehen musste. Die Prinzessin genas, die "Ritter
der Rose" zogen weiter, von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, von Burg zu Burg. So wie
England über die Jahrhunderte wuchs, zum starken Königreich sich formte, so
wuchs auch der Ruf der Truppe. Dabei begründeten die "Ritter" ein demografisches Gesetz: Für jeden Spross, den die Schauspieler in ihren Wagen
mit sich nahmen, hinterließen sie im Bauch einer Bäuerin Nachwuchs zurück. So
lebten sie von England, und England lebte durch sie.
Eines Tages schlug die Schauspieltruppe ihre Zelte an der crossroad of Exe
auf, jener mythischen Weggabelung, an der alle Straßen Englands zusammenführen
sollen. Dort eroberten sie das Herz eines jungen Mannes, der die "Ritter der
Rose" - wie Brizuela es wunderbar formuliert - "aus dem Reich der Legende
in die Geschichte und von dort in die Ewigkeit geleiten sollte". Sein Name:
William Shakespeare. In einer Taverne stellte Will sich der Company vor und
begehrte Aufnahme ins Ensemble. Der großzügige Mäzen der fahrenden "Ritter",
kein Geringerer als Sir Walter Raleigh, Admiral und Pirat der Königin, befahl
dem jungen Will, niederzuknien. Alsdann nahm er eine Feder und schlug Master
Shakespeare mit dieser auf Kopf und Schultern zum Ritter der englischen Sprache.
Will, nun Mitglied der "Ritter der Rose", erbot sich von der Truppe, dass sie
ihm alles mitteilen möge, was sie während ihrer Reisen durch England quer durch
die Jahrhunderte gelernt hätte. Er versprach, diesen Schatz an Erfahrung in
Verse zu kleiden, aus denen nicht ein einzelner Mensch, sondern eine ganze Nation
sprechen würde.
Der "Sweet Swan of Avon", wie Shakespeare
liebevoll genannt wurde, verbrachte künstlerisch fruchtbare Jahre bei den
"Rittern der Rose". Doch nach dem Tod der wohlgesonnen Königin ist der neue
Herrscher, Charles I., gezwungen, den frömmelnden Puritanern nachzugeben. Ihnen
ist das Theater zuwider, ein moralisches Übel, das verboten werden müsse. Die
Truppe geht auf einem von Sir Raleigh geschenkten Schiff, der "Almighty Word"
ins Exil, verlässt England und tingelt in Europa von Hafen zu Hafen. Will bleibt
in Inglaterra und wird Zeuge, wie ein Indianer am Hofe des Königs vorgeführt
wird. "Canibal" bezeichnet man den Krieger, "Menschenfresser".
In Shakespeares "Der Sturm" soll "Canibal" später als "Caliban"
wiederkehren.
Im Exil wurden die "Ritter der Rose" zum "Great Will", in
Anlehnung an Master Shakespeares Namen und zu seinem Vermächtnis ("will"
bedeutet im Englischen auch "Testament"). Waren die seefahrenden Schauspieler
anfangs in allen Häfen willkommene Gäste, so ändert sich dies mit der Zeit.
Brizuela: "Sie sind nicht mehr die fahrende Botschaft Englands, sondern eine
dahintreibende anachronistische Insel". Nicht nur England verstand ihre
Sprache nicht mehr, sondern ganz Europa. Poesie und Drama mussten Geld und
Handel Platz machen. Und auch innerhalb der Company selbst kommt es zum Streit.
Ein Lager verehrt Shakespeare als einen Gott, dessen Worte reine Wahrheit sind.
Das Gegenlager sieht in Will hingegen nothing but words, Wörter, die sich
im Laufe der Jahre ändern. "Es sei Torheit sich an Vokabeln zu klammern, in
denen sich nur die Toten wiedererkennen würden", mahnt ihr
Sprecher.
Durch das Wirken eines diabolischen - an Rasputin erinnernden -
Russen muss der glorreiche "Great Will" Jahrzehnte danach auch noch mit einem
italienischen Zirkus, einer Truppe von Gauklern und Artisten, fusionieren. Die
"Sprache Englands" scheint samt der "Almighty Word" endgültig im Trivialen zu
versinken.
Diese Gegensätze werden erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts
durch die neu hinzu gestoßene Chefin, Lady Broadback, überwunden. Sie besitzt
nicht nur die "Gabe", eine Art seherische Intuition, sondern glaubt auch an die
lenkende Gewalt von "Korrespondenzen", Ereignissen aus Vergangenheit und
Gegenwart, die in Verbindung stehen. Als Pastorentochter an den Zirkus verkauft,
sucht sie seit Jugend den "Namen ihres Schicksals" und findet seine ersten
Silben am Panamakanal des Jahres 1914, wo sie die ausgediente "Almighty Word"
gegen den Panzerkreuzer "Patagonia" tauscht und Kurs gegen Süden hält, gen Feuerland.
Dort im unwirtlichen Inselarchipel, wo Pazifik und Atlantik aneinander breschen,
trifft sie auf die "Tochter", ein Missionarskind, deren Lebenslauf mit dem ihrigen
in Korrespondenz steht. Die junge Frau hat es sich zum Schicksal gesetzt, die
Ureinwohner der Ona und Yahgan vor der Ausrottung durch weiße Kolonialisten
zu bewahren. Lady Broadback glaubt, die Insel des Caliban gefunden zu haben.
Mitten in einem gewaltigen Orkan inszeniert sie am Strand von Waichais Insel
(Waichai = Verballhornung von "wild child") eine
theatralische Aufführung, um Calibans Kinder zu retten. Wie diese Neuinszenierung
von Shakespeares "Der Sturm" endet, soll dem Leser vorbehalten bleiben, ebenso,
ob Mylady den "Namen ihres Schicksals" tatsächlich erfährt.
"Inglaterra" mag vielfältig gelesen werden, ich sehe darin zum
einen eine Hommage an William Shakespeare und die Kultur des alten Englands, zum
anderen - auf einer omnipräsent mitgeführten Meta-Ebene - einen Appell an das
Edle und Noble im und am Menschsein. Shakespeare wie das klassische Inglaterra
dienen als Synonyme für Ästhetik und Humanität, als Kontrapunkte zu
Materialismus und Verrohung. Wie sagt Miranda in "Der Sturm", I, 2, 5-6: "Oh,
ich litt mit ihnen/ Die ich so leiden sah." Liegt in diesen Worten der "Name
des Schicksals", das "Almighty Word", offenbart?
(lostlobo; 04/2004)
Leopoldo Brizuela: "Inglaterra"
(Originaltitel "Inglaterra. Una fábula")
Aus dem argentinischen Spanisch von Christian Hansen.
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Leopoldo Brizuela wurde 1963 in der
Stadt La Plata in
Argentinien geboren. Mit siebzehn Jahren schrieb er seinen
ersten, preisgekrönten Roman "Tejiendo agua" ("Wasser weben"). Sein zweiter
Roman, "Inglaterra", wurde 1999 mit dem hoch dotierten argentinischen
Literaturpreis "Premio Clarín" ausgezeichnet.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Nacht über Lissabon"
Lissabon in einer Novembernacht 1942. Portugal hat ein britisches Ultimatum
erhalten, in den Krieg einzutreten, doch der Machthaber Salazar zögert, noch
liebäugelt er mit der faschistischen Achse. Angst vor dem Einmarsch der Nazis
oder der Bombardierung durch die Alliierten bemächtigt sich der Stadt, die von
Fremden wimmelt: Diplomaten in geheimer Mission, Spione beider Seiten, jüdische
Flüchtlinge aus ganz Europa. Deren Hoffnung richtet sich auf die "Boa
Esperança", das letzte Schiff, das die Rettung vor der Deportation in die
Konzentrationslager verspricht. In dieser angespannten Lage, wo jeder jeden verdächtigt,
bangt der argentinische Konsul um die Ankunft einer großen Hilfslieferung aus
Buenos Aires - er weiß nur zu gut, welch gefährlichen Auftrag er damit
verfolgt und warum er sich darauf eingelassen hat.
Und ist es nicht der blutjunge, undurchsichtige Ricardo de Sanctis, "Auserwählter"
des Lissabonner Kardinals, der in Wahrheit die Fäden zieht? Unterwegs in der
Nacht ist auch der von seinen eigenen
Dämonen getriebene Sekretär der
Gesandtschaft; er soll seine Landsleute, die Tangokünstler Enrique Santos Discépolo
und seine Ehefrau Tania, sicher durch die von Gerüchten aufgewühlte Stadt
begleiten. Aber die beiden haben ihre eigenen Pläne, die nicht ans Licht
wollen. Noch vor Mitternacht verlassen sie das Fadolokal "Gondarém"
am Hafen, wo sich gegen alle Furcht die Lebenslust aufbäumt. Sie alle, Akteure
und Mitgerissene, tragen in dieser Nacht ihre Geheimnisse mit sich, ihre Ängste
und Begierden, suchen Ohren für ihre Bekenntnisse, ringen mit ihren alten
Geschichten. Schließlich explodiert auf der "Boa Esperança" eine
Bombe, und die Ereignisse überstürzen sich ... (Insel Verlag)
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