Stefan Brijs: "Der Engelmacher"


Ein Frankenstein der Moderne

Mary Shelleys 'Frankenstein' kann man wohl als den literarischen Vorreiter oder Prototypen ruchloser, zumeist deutscher Ärzte und Wissenschaftler bezeichnen, die sich zu Herren über Leben und Tod machen wollten. Ihm folgten Maurice Renards Doctor Lerne sowie andere, weniger bekannt gewordenen Schurken im Arztkittel. In dieser Tradition des Anprangerns medizinisch-wissenschaftlicher Hybris wurzelt auch "Der Engelmacher", das neueste Werk des flämischen Autors Stefan Brijs. Auch hier ist es wieder ein deutscher Arzt, Victor Hoppe (Mary Shelley taufte ihren 'Frankenstein' ebenfalls auf den Vornamen Victor), der in verantwortungslos leichtsinniger Weise mit dem Leben experimentiert, in diesem Fall mit dem menschlichen Erbgut. Das Buch hat also einen brisanten aktuellen Bezug zur ethisch-medizinischen Gegenwartsdiskussion. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern Frankenstein und Lerne wird Doktor Hoppe von der Dorfbevölkerung (er betreibt seine Studien nämlich fernab der Universitäten in dörflicher Abgeschiedenheit) keineswegs gefürchtet und gemieden, nein, er wird von den in spießbürgerlicher Naivität befangenen Landmenschen geradezu verehrt; von Menschen, deren Pole, zwischen denen sich ihr gesamtes dörfliches Leben in der Regel abspielt, die Kirche und das Wirtshaus sind. In diesem Umfeld entwickelt Victor Hoppe, dessen Vater auch schon im selben Dorf als Arzt praktizierte, ein nahezu messianisches Wesen, und viele seiner Heilungen werden als kleine Wunder angesehen, zumal er sich weigert, ein Honorar für seine ärztlichen Bemühungen entgegen zu nehmen. Er sei schließlich dazu da, Gutes zu tun, sagt er. Von der Dichotomie Gut und Böse handelt auch der Roman "Der Engelmacher", ebenso von den Gegensatzpaaren Genie und Wahn sowie Glaube und Wissenschaft, die aber hier im Roman wie ja auch im wirklichen Leben stark miteinander vernetzt sind.

Stefan Brijs hat sein Buch in drei große Abschnitte eingeteilt. Der erste Teil ist noch gleichsam eingewoben in den Schleier des Geheimnisses, Andeutungen bestimmen die Handlung, sogar ungeklärte Fragen werden aufgeworfen, wie zum Beispiel auf Seite 57, wo Doktor Hoppe sagt: "Es ist etwas vorgefallen." Die Frage "Was?", die der Leser sich stellt, wird vom Autor aber nicht beantwortet, auch später nicht, es sei denn, ich hätte etwas übersehen oder missverstanden.

Teil 2 präsentiert uns die Lebensgeschichte Victor Hoppes, abwechselnd werden dabei Szenen aus seiner Kindheit und aus seiner Forscher-Karriere beleuchtet. Der Leser wird mit den Bedingungen und Ursachen bekannt gemacht, die Doktor Hoppe zu dem "Ungeheuer" reifen lassen, das er dann schließlich auch geworden ist. Unter anderem erfährt man, dass er am Asperger-Syndrom leidet, einer Form von Autismus, die mitursächlich dafür ist, dass Victor Hoppes Gefühlsleben schon in seiner frühesten Kindheit komplett verödete. Und die Gefühllosigkeit, vor allem die Humorlosigkeit des nach rein rational-wissenschaftlichen Prinzipien denkenden und handelnden Menschen wird vom Autor immer wieder in den Focus gerückt, was natürlich ein wenig nach Klischee riecht. Mit einer erschreckenden Gemütsleere, dem fruchtbaren Nährboden für die Saat der Hybris, und ohne Rapport mit seinen Wissenschaftskollegen zu halten, spinnt sich Victor Hoppe immer mehr in den Kokon seines eigenen Wahns ein, bis er ihm schließlich die Sicht auf alles außerhalb des Wahns Gelegene versperrt hat.

Der dritte und letzte Teil der Erzählung knüpft chronologisch exakt an das Ende des ersten Teils an. Und hier im Schlussdrittel überschlagen sich dann die Ereignisse, obwohl auch vorher nie eine Spur von Langeweile aufkommt. Virtuos führt Stefan Brijs die Leser durch die letzten Kapitel seines Buches. Die beeindruckende Schlussszene, dramatischer Höhepunkt der Geschichte, erinnert mich stark an "Die Teufelsjäger" oder "Der Zauberlehrling" von Hanns Heinz Ewers. Ob Brijs dort Anleihen genommen hat? Egal, das Ende ist in jedem Fall brillant, die Schlusspointe überzeugend, wenn auch nicht unbedingt überraschend.

Der Stil des "Engelmachers" ist schnörkellos und wohltuend einfach, sachlich, wirkt mitunter sogar etwas zu nüchtern. Nirgends gibt es aufgeblasene oder gestopfte Wortwürste, durch die sich wie unter peinvollen Blähungen die Gedanken winden. Brijs' Sprache erinnert mich irgendwie an naive Malerei oder an eine Kinderzeichnung, die in unschuldsvoller Naivität komplizierte Sachverhalte verdeutlichen möchte. Eine bewusst simplifizierende und doch zugleich auch virtuose, präzise und beeindruckende Schilderung. Brijs' Sätze treffen wie Hufeisen; hart, scharf und rücksichtslos stampfen sie auf den Empfindungen und Gefühlen des Lesers einher. Er selbst sagt von seinem Stil: "Ich habe mich bewusst für einen einfachen Stil entschieden. Mit der Zeit ist mir immer deutlicher geworden, dass man keine hundert Sätze zu schreiben braucht, wenn ein einziger ausreicht. Früher war ich viel zu sehr damit beschäftigt, wohlklingende Sätze zu Papier zu bringen."

Was für mich allenfalls zu kritisieren wäre, ist der Mangel an Glaubwürdigkeit, an Lebensechtheit, der Stefan Brijs' Protagonisten bisweilen zu eigen ist. Sie sind zu einfach gestrickt, was ihre Psyche angeht, in ihrer Naivität zu überzogen dargestellt. Dass beispielsweise Victor Hoppes Mutter Johanna, ebenfalls Ärztin, wie wir beiläufig erst später im Text erfahren, glaubt, dass eine Hasenscharte entweder durch einen toten Hasen, auf den der Blick der Schwangeren fällt, hervorgerufen wird, oder durch Einflussnahme des Teufels höchstpersönlich, das wirkt ebenso unglaubwürdig wie das Religions- und Gottesverständnis Victor Hoppes, das in etwa den Vorstellungen eines Vierjährigen entsprechen mag.

Mein persönliches Fazit: Die Liste der Bücher, die ich in meinem bisherigen Leben bereits gelesen habe, ist lang. Vieles ist nach einigen Monaten oder Jahren in der Erinnerung verblichen. Beim "Engelmacher" habe ich das Gefühl, als hätte sich das Gelesene eingebrannt, unauslöschlich. Kann man einem Werk ein höheres Lob zollen?

(Werner Fletcher; 02/2007)


Stefan Brijs: "Der Engelmacher"
(Originaltitel "De engelenmaker")
Aus dem Niederländischen von Ilja Braun.
btb, 2007. 448 Seiten.
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Stefan Brijs, Jahrgang 1969, lebt in der Nähe von Antwerpen. Mit seinem Roman "Der Engelmacher" gelang ihm in Belgien und den Niederlanden ein Sensationserfolg. Er wurde dafür u. a. mit der "Goldenen Eule" für das beste Buch des Jahres ausgezeichnet sowie mit dem Preis der Königlichen Akademie für Literatur der Niederlande, eine Verfilmung ist in Arbeit, die Auslandsrechte wurden in zahlreiche Länder verkauft.