Marcel Reich-Ranicki: "Ungeheuer oben"

Über Bertolt Brecht


Dass Brecht ein Genie war, genügte nicht.

Ist der Aufstieg des Bertolt Brecht nicht mehr aufzuhalten, fragt der Literaturkritiker Reich-Ranicki, und wundert sich über das eigenartige Gehabe der Deutschen, welche die Bilder ihrer großen Dichter immer so lange retuschieren, bis daraus Vorbilder entstehen, mit denen zwar schlechten Lesebüchern, doch niemals guten Lesern gedient ist?

Ist es denn so schwer, sich damit abzufinden, dass er - Bertolt Brecht - ein nicht unbedingt sympathischer und vielleicht auch kein sonderlich edler Zeitgenosse war? Wer sich noch nicht damit abgefunden hat, der wird somit eines Besseren belehrt. In einer Abfolge von sieben Aufsätzen wird die Person des Klassikers Bertolt Brecht auf seine menschlichen Dimensionen zurückgestutzt. Mit der ihm eigenen exzentrischen Eloquenz würdigt Reich-Ranicki den vergötterten Poeten als einen zur Dichtkunst begabten Egoisten, dessen extreme Egozentrik sich durch nichts beirren ließ.
Er bezichtigt den zum Idol verklärten Dramatiker der ausbeuterischen Vielweiberei, geißelt seine opportunistische Gesinnungspraxis und denunziert den Poeten zuguterletzt gar als Geschäftsmann im Kunstgetriebe und weiß dies alles penibel zu begründen.
Und selbst noch der belehrende Gestus seines dramatischen Werkes sei fragwürdig, sohin auch sein dramatisches Werk an sich, doziert Reich-Ranicki, und fleddert solcherart den Ruhm des großen Theatermanns.

Brecht hat - wie wir wissen - seiner Dramatik den Marxismus als ideelles Fundament zugefügt und auf diese Art und Weise den Klassenkampf auf die Bühne verfrachtet. Allein, der vorgebliche Gesinnungskult entpuppt sich beim näheren Hinsehen als bloßes Hilfsmittel für eine literarische Produktion, der es primär um Verführung um ihrer selbst Willen geht. Der Dichter als leidenschaftlicher Verführer zu seiner Kunst? Inszenierter Gesinnungspathos als bloßes Mittel zum Selbstzweck? Der blasphemisch erhobene Zeigefinger empört das Publikum der postkommunistischen Ära, das genervt abwinkt, wenn Brechts Theaterdidaktik am Spielplan steht. Berthold Brecht war Dramatiker, und nebst seiner Dramatik war ihm alles beiläufig. Reich-Ranicki zeichnet ein getreues Porträt jenes allzu irdischen Mannes, der uns von Schulzeiten her noch als überweltliches Idol deutscher Gegenwartspoesie - selbstredend: als der Bertolt Brecht - in Erinnerung ist.

(haschu; 10/2001)


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