Ferdinand Bordewijk: "Charakter"
Roman von Vater und Sohn
"Charakter",
dieser in Holland als Klassiker geschätzte, dort mittlerweile
in der 40. (!) Auflage verkaufte Roman wurde aus kaum noch
nachvollziehbaren Gründen erst im Jahr 2007 von C.H. Beck zum
ersten Mal einem deutschsprachigen Publikum präsentiert.
Der Roman spielt im Juristenmilieu der holländischen
Hafenstadt Rotterdam, in dem sich der Autor, selbst im Hauptberuf
Jurist, bestens auskannte. Es ist ein Rotterdam mit Ecken und
Straßen und Plätzen, Kneipen und Theatern, das schon
kurz nach dem ersten Erscheinen des Buches von den Bombern der
deutschen Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt wurde. Insofern war die
Lektüre des Buches für viele Generationen
holländischer Leser auch eine Zeitreise zurück in die
Vergangenheit einer unverwechselbaren Stadt.
Der Roman lebt von drei Hauptfiguren: dem Vater, der Mutter und dem
Sohn. Alle anderen Personen, so liebevoll und detailliert sie auch
geschildert sein mögen, dienen letztlich dazu, diese drei
Charaktere in ihrer wie in Stein gehauenen Eindimensionalität
zu betonen.
Alle drei Hauptpersonen sind in ihrem eigenen Wesen wie gefangen, sie
kommunizieren eigentlich nicht miteinander und können aus
ihrer fast mythisch anmutenden Wesenheit nicht heraus. Die ganze, sich
über einen Zeitraum von etwa sechs Jahren hinziehende
Geschichte dieser drei Menschen ist auf eine ganz eigene Weise
geschildert. Ein geradezu dramatisches Geschehen wird in trockener
Juristenprosa beschrieben, in einem geradezu notariell zu nennenden
Stil, den Cees Nooteboom
in seinem lesenwerten Nachwort als "Kaltnadel"
und "kaltes Feuer" bezeichnet.
Der Vater in diesem mythischen Dreieck des gegenseitigen Schweigens ist
der hünenhafte Gerichtsvollzieher A.B. Dreverhaven, ein Mann
von dämonischer Herzenskälte und Skrupellosigkeit,
ebenso machtgierig und geizig und von Generationen von Rotterdamer
Bürgern, besonders den Armen unter ihnen, für seine
ganz eigene Form des Eintreibens von Außenständen
wie auch des Vertreibens von Schuldnern und Mietern
gefürchtet.
Dieser Mann zeugt aus einer für ihn typischen Laune heraus mit
seinem Dienstmädchen Jacoba Katadreuffe einen Sohn. Die
unbeugsame Frau weist seinen Heiratsantrag zurück und nimmt
all die Jahre keinen Pfennig von Dreverhaven an. Sie zieht ihren Sohn
in großer Armut alleine auf, verdient sich das
Nötigste mit sehr fantasievollen Handarbeiten, aus denen die
Wiederverkäufer aber einen mehrfach
größeren Gewinn herausschlagen. Nach einigen Jahren
Grundschule muss sich der junge Jacob Katadreuffe in einer Zeit, in der
sich die wirtschaftliche Lage auch in Holland zusehends verschlechtert,
alleine durchschlagen. Er nimmt verschiedene Arbeiten an, und als er
das Angebot zum Kauf und zur Übernahme eines Tabakladens
bekommt, greift er zu. Das Geschäft wird zum Fiasko. Als er
mit seiner Mutter über seinen Konkurs sprechen will, ist ihr
einziger Kommentar: "Deine Sache".
Der Kreditgeber, später stellt sich heraus, dass es von Anfang
an sein Vater Dreverhaven ist, verfolgt ihn mit eiserne Härte.
Sein Sohn Jacob wehrt sich gegen das ihm drohende Schicksal mit einer
Verbissenheit, die auch die beiden anderen Hauptpersonen des Romans,
die Mutter und den Vater, auf eine dem heutigen Leser schwerlich
nachvollziehbare und gerade deshalb beeindruckende Weise auszeichnet.
Sein Konkursverwalter bei einer großen Rotterdamer
Anwaltskanzlei verschafft ihm ebendort eine Stelle, nachdem Jacob, als
er vor der Kanzlei stand, ein absolut sicheres Gefühl von
genau diesem Vorgang hatte. Und mit dieser frappierenden
Selbstsicherheit kämpft sich Jacob Katadreuffe hoch. Er
übersteht zwei Versuche seines Vaters, ihn in den Konkurs zu
zwingen, macht mit einer beispiellosen Willensanstrengung sein Abitur
nach, legt mit Billigung der Leidener Professoren in Rekordzeit seine
juristischen Examina ab und wird schlussendlich als Partner in die
Anwaltskanzlei aufgenommen.
All die Jahre über hat Jacob einen Freund, Jan Maan, einen
kommunistischen Arbeiter, der als Kostgänger bei Jacobs Mutter
wohnt und "Mutter" zu ihr sagt. Jacob zeigt sich von der
kommunistischen Idee wenig begeistert, ihn interessieren allein sein
Erfolg und Fortkommen. Diese innere Festlegung, quasi wie ein Stein in
sein ansonsten tapferes Herz gepflanzt, hindert ihn auch, die einzige
große Liebe seines Lebens wahrzunehmen. Lorna te George, eine
für die Kanzlei fast unersetzliche Kraft, kündigt
schließlich ihre Stellung, weil sie die kühle
Nähe zu Jacob nicht mehr aushält. Als er sie Jahre
später am Meer mit ihrem mittlerweile geborenen Kind trifft,
kommt nicht einmal Bedauern in sein Herz. Er hatte sich von Anfang an
für sich und seine Karriere entschieden.
Bordewijk erzählt seine Vater-Sohn-Geschichte nicht mit den
Mitteln des psychologischen Realismus. Einfühlung ist kaum
möglich. Die Figuren bleiben unergründlich, von
mythischer Wucht. Das dämonische Scheusal von Vater, die
wortlose, harte Liebe der Mutter, der in seinem Selbstbehauptungswillen
ebenso harte Sohn - alles wird so nüchtern-knapp berichtet wie
in den Chroniken des
Alten Testaments. So rätselhaft die
sadistischen Machenschaften des Vaters bleiben - das Versagen des
Sohnes gegenüber der jungen Lorna aus seiner Kanzlei ist
ergreifend und beklemmend. Sie liebt ihn, er liebt sie, beide sind frei
- aber er weist sie von sich. Die Mutter hat vollkommen recht, wenn sie
trocken kommentiert: "So, dann warst du ein großer Esel,
Jacob."
Das Buch handelt nicht wesentlich von einem Charakter oder von
Unterschieden zwischen verschiedenen Charakteren, vielmehr handelt es
von der Eigenschaft "Charakter" in ihrer ursprünglichen
griechischen Bedeutung: "schneiden, ausschneiden, gravieren".
"Charakter", schreibt Cees Nooteboom in seinem Nachwort, "in diesem
Sinne ist das eigentliche Thema des Buches, zwingend und unausweichlich
sind Vater, Mutter und Sohn in ihren Charakteren gefangen, unerreichbar
füreinander mit Liebe und letzten Endes auch nicht mit Hass."
Bordewijk erzählt von Menschen mit einem solchen Charakter,
Menschen, die anderen Menschen ebenso wie auch Situationen ihren
Stempel aufdrücken, ihr eingeschnittenes Zeichen, und doch
zugleich armselige und bedauernswerte Gefangene ihrer Eigenart sind.
Die Härte, mit der sie sich durchsetzen, beschädigt
sie selbst oft am meisten.
Ähnlich wie das beschriebene Rotterdam völlig
verschwunden ist, scheinen auch Menschentypen wie jene im Roman einem
heute verschwundenen Menschenschlag anzugehören, mit einem
Ethos im Guten wie im Bösen, den es nicht mehr geben kann.
Dennoch sind Ansätze und Relikte solcher Eigenschaften,
manchmal in stark veränderter, der jeweiligen
gesellschaftlichen Situation angepasster Form, auch in der Gegenwart
zwischen Menschen und ihren
Beziehungen mächtig.
Bordewijks beindruckender Roman zwingt den Leser, sich mit dieser
Einsicht auseinanderzusetzen.
(Winfried Stanzick; 08/2007)
Ferdinand Bordewijk: "Charakter. Roman von Vater und Sohn" Ferdinand Bordewijk (10. Oktober 1884-28. April 1965)
gilt als der erste und wichtigste Autor der niederländischen Moderne. Neben
seiner Tätigkeit als Anwalt in Rotterdam schrieb er zahlreiche Romane, in denen
er so unterschiedliche literarische Strömungen wie die der Fantastik, der Neuen
Sachlichkeit und des Magischen Realismus zu einer höchst originellen Mischung verbindet.
(Originaltitel "Karakter")
Mit einem Nachwort von Cees Nooteboom.
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas.
Gebundene Ausgabe:
C.H. Beck, 2007. 362 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2010. 368 Seiten.
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