Suketu Mehta: "Bombay"
Maximum City
Stadt
der Extreme und der Superlative
Ein Schriftsteller, der als Vierzehnjähriger mit seinen Eltern
von Bombay in die USA gezogen ist, kehrt nach über zwanzig
Jahren in seine Heimatstadt zurück. Er möchte ein
Buch über Bombay, das inzwischen Mumbai heißt,
schreiben und lässt sich mit seiner in Europa erzogenen Frau
und den zwei kleinen Kindern in dem Viertel nieder, in dem er
aufgewachsen ist.
Zunächst fällt es der Familie nicht leicht, in der
16-Millionen-Stadt Fuß zu fassen: Er ist in den Augen der
Einheimischen ein Fremder geworden. Die Schwierigkeiten
beschränken sich jedoch mehr auf das Alltägliche, vor
allem die völlig marode Infrastruktur und die Korruption; die
Recherche gelingt hingegen vorzüglich, denn es gibt immer
Bekannte von Bekannten von Freunden, die interessante und bedeutsame
Kontakte vermitteln können. So gelingt es dem Autor, ein
vielschichtiges Bild von der gewaltigen und äußerst
facettenreichen Metropole zu entwerfen.
Bombay ist eine Stadt der Gegensätze. Jener zwischen Arm und
Reich scheint mittlerweile wesentlich weniger relevant als die Kluft
zwischen Hindus und Muslimen, die sich in den 90er Jahren in einem
regelrechten Bürgerkrieg entlud. Davon hat sich die Stadt
nicht erholt: Die Macht liegt mittlerweile bei straff organisierten
Verbrecherbanden, deren Mitglieder sich zumeist nur bezüglich
ihrer Religion unterscheiden. Politiker stützen sich auf diese
Banden. Preiswert führen die Bandenmitglieder Auftragsmorde
durch - an Politikern, Geschäftsleuten, feindlichen
Bandenchefs, "Bollywood"-Bossen, Polizeioberen und so fort. Der Autor
interviewt unerschrocken die Mörder und ihre zumeist in Dubai
oder Pakistan ansässigen Chefs, aber auch den vielleicht
einzigen unbestechlichen Polizisten Bombays, und lässt den
Leser unmittelbar an der hierzulande schwer fasslichen
Brutalität der Verbrecher und ihrer Bekämpfer
teilhaben.
Ein weiterer Abschnitt führt zunächst in die Welt der
vielen "Bierbars" und das zumeist von Bitterkeit geprägte
Leben der Bartänzerinnen, die ihre Jungfräulichkeit
an den Höchstbietenden verschachern und zwar
hauptsächlich vom Tanz leben, aber auch davon, Barbesucher in
sich verliebt zu machen und auszunehmen. Materiell geht es den
Mädchen nicht schlecht, indes sind selbst verletzendes
Verhalten und Selbstmordversuche bei ihnen Normalität.
Schein und Sein liegen auch in der Glitzerwelt Bollywoods, der
Hindi-Filmindustrie, weit auseinander. Der Markt für die
kitschigen, der Zensur unterworfenen und in Bezug auf
erwünschte Inhalte stark beschränkten Filme ist hart
umkämpft, und die wenigsten Filme spielen die Kosten ein. Es
verwundert nicht, dass dem Leser in Verbindung mit den
Bollywood-Größen, Schauspielern wie Bossen,
Unterweltgrößen aus dem ersten Abschnitt erneut
begegnen.
Im dritten Teil beleuchtet der Autor die Unterschiede zwischen seiner
Kindheit in Bombay und dem Leben, wie es sich zu Beginn des 21.
Jahrhunderts für Kinder präsentiert, sowie ein paar
ganz alltägliche
Schicksale einfacher Menschen in und aus
Bombay. Darunter sind eine Familie, die lange im Slum gelebt hat,
schließlich eine Wohnung in einem Mittelklasseviertel
erwerben kann und sich nur langsam an diese neue Existenz
gewöhnt, und ein Junge aus der verachteten Provinz Bihar, der
von zu Hause abgehauen ist, um in Bombay Dichter zu werden; seine
Eltern können den in der Metropole Gestrandeten zur
Rückkehr bewegen. Und während die Familie aus dem
Slum das geringe Mehr an Luxus genießt, trennt sich eine
schwerreiche Familie von all ihrer Habe und beginnt ein asketisches,
auf Außenstehende sehr skurril anmutendes Leben als
Jaina-Mönche.
Der Autor Suketu Mehta, Wanderer zwischen den Welten, fasst trotz der
intensiven Kontakte, die er in Bombay geknüpft hat, nicht mehr
Fuß in seiner Geburtsstadt. Nach zweieinhalb Jahren kehrt er
mit seiner Familie nach New York zurück.
Auf den westlichen Leser übt dieses Buch trotz der
schockierenden Wirkung auch eine starke Faszination aus.
Indien
an sich ist von intensiven Kontrasten geprägt, und diese
potenzieren sich in Bombay, der überfüllten, aus
allen Nähten platzenden Stadt, die jeglicher Kontrolle durch
Politik und Verwaltung entglitten zu sein scheint. Verblüffend
offen äußern sich dingbare Mörder, die ihre
Einnahmequelle mehr oder weniger als ein normales Handwerk, vielleicht
gar als Kunst betrachten. Ihnen stehen machtlose, überforderte
Richter und korrupte Politiker gegenüber. Es verwundert nicht,
dass die Polizei, selbst weitestgehend bestechlich, zu Folter und
Sippenhaft sowie geschickt inszenierten Hinrichtungen greift, um die
jeweils missliebigen Banden zu dezimieren.
Der Autor scheut im Zuge seiner Recherche kaum ein Risiko und versteht
es, auf seine Gesprächspartner einzugehen; so gelingt es ihm,
Politiker und Mörder, Bartänzerinnen, ihre Liebhaber
und Familien, kriminell gewordene und dennoch erfolgreiche Schauspieler
sowie einfache Bürger der Stadt erstaunlich authentisch zu
porträtieren. Mehtas Reportage - als solche könnte
man dieses Buch am ehesten einordnen - ist sachlich und dennoch
packend, zumal der Autor aufgrund des engen Kontakts zu seinen
Interviewpartnern präsent bleibt und die in Erfahrung
gebrachten Inhalte zwar meistens nicht wertet, jedoch behutsam
moderiert. Indem Mehta sich nicht nur seinen unmittelbaren
Zielpersonen, sondern auch deren oft heterogenem Umfeld zuwendet, und
dies immer auf Augenhöhe, entstehen verblüffend
vielschichtige, nuancenreiche Bilder dieser Personen und des Milieus,
das sie repräsentieren: Das fast 800 Seiten starke Buch
fesselt von Anfang bis Ende.
Bombay ist wohl die bedeutendste Metropole Indiens, eines
wirtschaftlich aufstrebenden Landes mit der
zweitgrößten Einwohnerzahl der Welt. In Bombay
konzentrieren sich die Stärken und Schwächen des
Subkontinents. Suketu Mehtas kraftvoll und dennoch einfühlsam
verfasstes Buch stellt die Stadt in einmaliger Weise vor. Ein
außergewöhnliches Leseerlebnis.
(Regina Károlyi; 10/2006)
Suketu
Mehta: "Bombay"
(Originaltitel "Maximum City. Bombay Lost and Found")
Aus dem Englischen von Anne Emmert, Heike Schlatterer und Hans Freundl.
Mit einem Nachwort von Carolin Emcke.
Suhrkamp, 2006. 782 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Suketu Mehta, geboren 1963 in Kalkutta, aufgewachsen in Bombay, studierte an der New York University und lebt heute als Autor in New York. Für "Bombay: Maximum City" wurde der Autor mit dem "Kiriyama Prize" 2005 ausgezeichnet, außerdem war er unter den Finalisten für den "Pulitzer Prize" 2005 und u. a. nominiert für den "Guardian First Book Award" und den "Ulysses Award".