Roberto Bolaño: "Chilenisches Nachtstück"


Nicht vielen chilenischen Autoren wurde und wird im deutschsprachigen Raum gebührende Aufmerksamkeit zuteil. Zwar erfreuen sich die Werke von Isabel Allende und Pablo Neruda einiger Breitenwirksamkeit, jedoch gilt Chile ansonsten eher als terra incognita. Beim Stöbern nach Literatur aus der Feder chilenischer Schriftsteller stößt man beispielsweise auf Luis Sepúlvedas Bücher, auf "Dantes Geige" der 1958 in Chile geborenen Autorin Alejandra Rojas, laut DVA "Ein lebenspraller Roman in der Tradition der großen lateinamerikanischen Erzähler", den Roman "Der Ursprung der Welt" des 1931 in Santiago de Chile zur Welt gekommenen Jorge Edwards, "Das schönste Buch des großen lateinamerikanischen Schriftstellers Jorge Edwards, ausgezeichnet mit dem Cervantes-Preis", so der Piper Verlag, sowie "Feuerland" von Francisco Coloane (1910-2002), seines Zeichens "Der größte chilenische Schriftsteller neben Pablo Neruda", wie der Unionsverlag zu berichten weiß.

Und wer war Roberto Bolaño?
In "Meyers Lexikon online" findet sich folgender Eintrag: "Bolaño, Roberto, chilenischer Schriftsteller, geb. Santiago de Chile 28. 4. 1953, gest. Barcelona 15. 7. 2003; lebte in Mexiko, später in Spanien; schrieb Lyrik und v. a. Prosa. Seine Werke sind geprägt von einem Nebeneinander von realer und irrealer Welt, von Komik und Tragik, von Ironie und Verzweiflung. Bekannt wurde er mit der skurrilen, fiktiven Literaturgeschichte 'Die Naziliteratur in Amerika' (1996). Sein anspielungsreicher Roman 'Die wilden Detektive' (1998), der gleichermaßen eine Satire auf den Literaturbetrieb und ein Psychogramm der geistig-kulturellen Welt Mexikos ist, wurde preisgekrönt."

Dem wäre noch gar Manches hinzuzufügen, u.a. dass Bolaños mehr als eintausend Seiten umfassendes, unvollendet gebliebenes Romanmanuskript, sein posthum erschienenes opus magnum "2666" erst im Jahre 2009 in deutscher Übersetzung vorliegt. Oder dass Roberto Bolaño, der "Infrarealist", wie er in manchen Feuilletons genannt wurde, in seiner spanischen Wahlheimat in einem Krankenhaus im Alter von 50 Jahren einer Hepatitis erlag, während er auf eine Lebertransplantation wartete.
Der Autor bezeichnete die avantgardistische "Infrarealistische Bewegung" übrigens als "so was wie Dada auf Mexikanisch".
Wie bereits erwähnt, wurde Bolaño 1953 in Santiago de Chile geboren. Im Jahr 1968 zog er mit den Eltern nach Mexiko um, kehrte 1972 nach Chile zurück, wo er Pinochets Militärputsch gegen Salvador Allende miterlebte. 1973 wurde inhaftiert. Nach seiner Freilassung ging er ins Exil nach Mexiko, nach Ende der Franco-Herrschaft wurde er im Jahr 1976 in Spanien sesshaft.

Chilenische Geschichte im Zerrspiegel eines Literaturkritikers und Opus Dei-Mitglieds

Der Roman besteht aus einem einzigen großen Delirium des Fieberwahns, möglicherweise der Phase kurz vor dem Tod, in welchem Sebastián Urrutia Lacroix, der Ich-Erzähler, sein Leben und dessen Früchte Revue passieren lässt: die wichtigsten Szenen seiner Jugend, seine Entscheidung für den Priesterberuf und seine Mitgliedschaft beim Opus Dei, wie er von einem älteren Gönner, dem Literaturpapst seines Landes in die Welt der Literatur eingeführt wird und bald selbst zum einflussreichen Rezensenten (und weniger einflussreichen Dichter) aufsteigt, seine Zeit in Europa, wo er in delikater Mission verschiedene Kirchen aufsucht, die kurze Allendeära (während der er sich in die griechischen Klassiker flüchtet) und die längere des Augusto Pinochet (in welcher er der Generalität einige Unterrichtsstunden im Marxismus - schließlich sollte man seinen Feind kennen - zu geben hat), seine wichtigsten Begegnungen mit chilenischen und ausländischen Schriftstellern, Erfahrungen und Lektüreerlebnisse tauchen erneut in seinem irrlichternden Geist auf, werden im Spannungsfeld zwischen Selbstanklage und Verteidigung zwanghaft bewertet.

Die besondere Erzähltechnik Bolaños dabei ist es, dass Sebastián, der sich selbst für den liberalsten Opus Dei-Mann Chiles hält, sich bei seinen Selbstrechtfertigungsversuchen unfreiwillig als ziemlich jämmerliche Gestalt entpuppt - literarisch allerdings nicht immer ganz stimmig, da der intendierte psychologische Realismus manchmal zu sehr der Lust zu satirischen Szenen weicht. Amüsant zu lesen ist es allemal, wie er ein um das andere Mal sein angebliches Christentum durch völlige Unfähigkeit zu menschlichem Mitgefühl (von irgendeiner Art seelsorgerischer Tätigkeit ganz zu schweigen) Lügen straft oder eine Vision von der Glorie der Kunst in Gestalt eines Raumschiffs, das mit Ernst Jünger als kostbarer Fracht auf dem Weg in die Unsterblichkeit an den Kordilleren zerschellt ist und nun im ewigen Eis ruht, empfängt. In letzter Konsequenz erweist sich Sebastián als tragische Gestalt, die aus Egoismus, Bequemlichkeit und nicht zuletzt aus Angst vor dem Leben in die scheinbar sicheren Häfen des Katholizismus und der Literatur geflüchtet ist, doch langsam ("Nach und nach beginnt die Wahrheit aufzusteigen wie eine Leiche, wie eine Leiche, die vom Grund des Meeres aufsteigt"), spätestens zum Zeitpunkt des Todes, und gewiss zu spät, mit dem ganzen Ausmaß ihrer daraus resultierenden Verdrängungen konfrontiert werden wird.

Daneben bespiegelt der Roman auch ein gutes Stück chilenischer Geschichte. In Geflechten von Abschweifungen und (erfundenen?) Anekdoten geht es um das Verhältnis von Politik und Kunst, um Opportunismus, Schuld, Gewissensnot und Mitverantwortung der selbsternannten ästhetischen Exilanten in der inneren Emigration, um Literatur als exterritoriales bzw. extemporales Refugium, um Kirche und Gewalt, Moral und Unmoral, um die Kluft zwischen Migranten und Daheimgebliebenen, um Mitläufertum - und vor allem natürlich um die Literaturszene.

Als "Nachtstücke" werden in der Musik träumerische oder elegische Stücke bezeichnet, in der Literatur versteht man darunter Schrifttum aus dem Bereich der dunklen Fantastik, also vorzugsweise nächtliche Szenerien mit Geistern und Ausgeburten der Hölle.
Roberto Bolaño verschmolz diese Elemente in seinem Roman "Chilenisches Nachtstück" zu einem ebenso dichten wie anspruchsvollen tragikomischen Lektüreerlebnis.

(Irmgard Ernst; 01/2008)


Roberto Bolaño: "Chilenisches Nachtstück"
(Originaltitel "Nocturno de Chile")
Übersetzt von Heinrich von Berenberg.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2007. 160 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2010.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Exil im Niemandsland. Fragmente einer Autobiografie"

Herausgegeben von Heinrich v. Berenberg.
Roberto Bolaño, in Chile geboren, in Mexiko aufgewachsen, in Spanien zu literarischem Weltruhm gelangt und früh gestorben, ist so etwas wie der "Fliegende Holländer" Lateinamerikas: wie Wenige hat er das Exil kennengelernt - und sich dazu unsentimentale Gedanken gemacht. Sie bilden den roten Faden dieser Fragmente zur Autobiografie eines Umhergetriebenen. Das Lied vom traurigen Latino, der im kalten Exil die warme Heimat besingt (wo Mord und Totschlag herrschen) hat dieser Autor nie mitgesungen. Bolaño ist sein Leben lang durch die Welt gereist, gezwungen, freiwillig, immer aber mit äußerster Intensität. In diesen Artikeln, Essays und Reisebildern kann man nachlesen, wie krumm die Wege waren, auf denen er zum Herold der latein­amerikanischen Gegenwartsliteratur wurde. (Berenberg) zur Rezension ...
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"Telefongespräche"

Sei es eine Parodie auf die korrupte Preisvergabe im Literaturbetrieb, ein meisterhaft arrangierter Dialog zwischen zwei Polizisten, die sich als die ranghöchsten Schlächter der chilenischen Militärdiktatur entpuppen, oder die hinreißende Liebesgeschichte zwischen einer Hochspringerin und dem Gehilfen eines russischen Gangsterbosses: Der Kampf um Geld, Erfolg oder Sex hält Bolaños Figuren auf Trab. In diesen 14 traurigen und zugleich schrecklich komischen Geschichten entführt uns der große Erneuerer der lateinamerikanischen Literatur in die Labyrinthe des Lebens - entlang der Grenze zwischen Fiktion und Realität. (dtv)
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"2666"
Literatur von einem anderen Planeten. Roberto Bolaños posthum erschienener Roman "2666" über die unaufgeklärte Mordserie an Frauen in Mexiko ist eine atemberaubende Reise ins finstere Herz der modernen Welt.
Ein Quartett durchgedrehter Germanisten macht sich auf die Suche nach dem verschollenen preußischen Schriftsteller Benno von Archimboldi. Seine letzten Lebenszeichen kommen aus Santa Teresa, einer Wüstenstadt an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, in der Hunderte von Frauen vergewaltigt und ermordet wurden. Wer sind die Mörder, und was hat der ehemalige Nazisoldat Archimboldi mit ihnen zu tun? Auch nach der Verhaftung des Hauptverdächtigen gehen die Morde weiter, während von Archimboldi jede Spur fehlt. Bolaño erzählt mit glänzender Fabulierlust und abgründigem Witz, und gleichzeitig berichtet er mit der erschreckenden Nüchternheit eines Polizeiprotokolls von der Mordserie, die sich tatsächlich seit Anfang der 1990er-Jahre in Ciudad Juárez abspielt. Aus zahllosen grotesken Lebensläufen - vom argentinischen Snuff-Video-Produzenten bis zur  glamourösen Hamburger Verlegerwitwe, vom kommunistischen Kochbuchautor bis zur mexikanischen Fernseh-Hellseherin - entsteht ein apokalyptisches Bild des 20. Jahrhunderts.
Das literarische Vermächtnis des frühverstorbenen Chilenen ist Gangster- und Bildungsroman, Science-Fiction und Reportage. (Hanser)
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"Die wilden Detektive"
Liebesgeschichten und Todesfälle, Morde und Fluchten, Irrenhäuser und Universitäten, Figuren, die verschwinden, und solche, die mirakulöserweise stets von Neuem auftauchen: Alles kommt in diesem Roman vor. (Hanser)
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"Der unerträgliche Gaucho"
"Vor vielen Jahren hatte ich einen Freund, der hieß Jim, und seitdem habe ich nie wieder einen so traurigen Nordamerikaner gesehen ... In Mittelamerika wurde er mehrmals überfallen, was außergewöhnlich erschien für jemanden, der ein Marine und als Soldat in Vietnam gewesen war. Keine Kämpfe mehr, meinte Jim. Ich bin jetzt Dichter und suche das Außergewöhnliche, um es mit gängigen, geläufigen Worten auszudrücken." "Gängige, geläufige Worte", das ist die Tonlage dieser fantastischen, weltläufigen Geschichten: Ein pensionierter Rechtsanwalt flieht aus dem korrupten Buenos Aires in die Pampa und trifft dort zu seinem Erstaunen nur friedfertige Bauern und kannibalische Kaninchen an. Und Jim, der Todtraurige, erliegt den Zaubermächten Mexikos. (Antje Kunstmann Verlag)
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"Die Naziliteratur in Amerika"
Ein Roman in der Verkleidung eines Literaturlexikons: Dreißig Lebensläufe von Nazi-Dichtern aus Süd- und Nordamerika. All diese Autoren haben nie existiert. Aber die Virtuosität, mit der hier Literaturgeschichte imitiert und parodiert wird, macht ihre ungeheuerlichen Lebensgeschichten und die Geschichte ihrer bizarren Gedichte, Romane, Poeme und Essays zu Teilen einer faszinierenden Parallelwirklichkeit. "Die Naziliteratur in Amerika" ist ein sehr komisches und ein sehr finsteres Buch. Es versammelt Exzentriker, Wahnsinnige, Clowns, Fanatiker und Verbrecher mit der Parodie der amerikanischen Literatur als Kulisse; stets präsent aber sind die Exzesse des 20. Jahrhunderts auf beiden Seiten des Atlantiks, geprägt von Herrenmenschenideologie, Rassismus und militärischem Wahn. Sie werden hier einem Gelächter preisgegeben, das dem Leser im Halse steckenbleibt. (Antje Kunstmann Verlag)
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"Lumpenroman" zur Rezension ...

"Amuleto"
Dies ist die Geschichte einer mutigen, durchgedrehten Frau. Aber auch die Geschichte jener lateinamerikanischen Studenten, die 1968 im Kugelhagel der Armee starben. Eine Frauentoilette in der Universität von Mexiko: Hier sitzt im September 1968, als die Soldaten einmarschieren und Studenten und Professoren abführen, Auxilio Lacouture, lang und dünn wie Don Quijote, ohne Arbeit, fast ohne Zähne, dafür aber mit einem großen Herzen, in dem ganz Lateinamerika und seine Dichter ihr Zuhause gefunden haben. Unentdeckt hält sie zwei Wochen lang aus, - heimgesucht von der Vision des großen Unrechts, dem sie zufällig entkommen ist und der Erinnerung an die vielen Lateinamerikaner, die wie sie in Mexiko gestrandet sind: Lilian Serpas, Geliebte des Che; oder Arturo Belano und seine Freunde - dichtende Grünschnäbel, politisch glühende Avantgardisten. Roberto Bolaño setzte mit "Amuleto" dem lateinamerikanischen Freiheitskampf ein ergreifendes Denkmal. (Antje Kunstmann Verlag)
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Leseprobe:

Die erste von mir aufgesuchte Kirche war Santa Maria del Dolore Perpetuo in Pistoia. Ich hatte erwartet, von einem betagten Geistlichen empfangen zu werden, aber wie groß war meine Überraschung, als mich ein Priester begrüßte, der noch nicht die Dreißig überschritten hatte. Pater Pietro, so sein Name, erklärte mir, Señor Odeim habe ihm ein Schreiben geschickt, in welchem ihm mein Besuch angekündigt worden sei, und dass es in Pistoia nicht etwa die Luftverschmutzung sei, die den romanischen und gotischen Baudenkmälern am ärgsten zusetze, sondern der von Tieren stammende Unrat, insbesondere die Exkremente der Tauben, deren Population sich sowohl in Pistoia wie auch an vielen anderen europäischen Orten regelmäßig vergrößert hätte. Für dieses Problem aber gebe es eine sichere Lösung, eine Waffe, die sich noch in ihrem experimentellen Stadium befände und die er mir am morgigen Tag vorführen wolle. Ich entsinne mich, dass ich die Nacht in eine Zimmer neben der Sakristei verbrachte und dort mehrmals aus meinen Träumen hochschrak, ohne zu wissen, ob ich mich auf dem Schiff befand oder in Chile, und einmal angenommen, ich war in Chile, ob ich dann zu Hause wäre, bei meiner Familie oder im Priesterkolleg oder aber im Haus eines Freundes, und obwohl mir für Augenblicke die Tatsache dämmerte, dass ich mich im Zimmer neben einer europäischen Sakristei befand, so wusste ich doch nicht mit Sicherheit zu sagen, in welchem Land Europas sich das Zimmer befand und was ich dort zu suchen hatte.
Am nächsten Morgen weckte mich eine Angestellte der Pfarrei. Sie hieß Antonia und sagte: Pater, Don Pietro erwartet Sie, gehen Sie schnell, sonst schimpft er mit Ihnen. Genau so. Ich wusch mich also, legte meine Soutane an und ging hinaus in den Innenhof des Pfarreigebäudes, wo ich den jungen Pater Pietro antraf, der eine sehr viel sauberere Soutane als ich trug und dessen linke Hand in einem plumpen großen, handschuhartigen Gebilde aus Leder und Metall steckte, und während ich hoch in der Luft über dem Himmelsquadrat, welches sich über den gelblichen Mauern öffnete, den Schatten eines Vogels erspähte, erblickte mich seinerseits Pater Pietro und sagte: Gehen wir auf den Glockenturm, und ohne ein weiteres Wort folgte ich ihm, und so erklommen wir, schweigend und die Anstrengung des Weges kostend, die Spitze des Glockenturms, auf der angelangt Pater Pietro pfiff und die Arme schwenkte, bis der Schatten vom Himmel herabstieß und sich auf dem großen Handschuh an der linken Hand des Italieners niederließ, und ich, ohne nötige Erklärungen, selbst erkennen konnte, dass es sich bei dem dunklen, über der Kirche Santa Maria del Dolore Perpetuo fliegenden Vogel um einen Falken handelte und sich Pater Pietro in einen Meister der Falknerei verwandelt hatte und dies die zur Verwendung anstehende Hilfsmaßnahme zur Ausrottung der um die alte Kirche herum hausenden Tauben war, und ich sah die Treppe hinunter, die in den Innenhof und zum gepflasterten Platz vor der Kirche hinabführte, und so sehr ich auch spähte, ich sah keine einzige Taube.
Am Nachmittag führte mich Pater Pietro an einen anderen Ort in Pistoia, wo es weder kirchliche Gebäude noch zivile Baudenkmäler gab, noch sonst etwas, was es verdient hätte, vor dem Zahn der Zeit geschützt zu werden. Wir fuhren in dem kleinen Lieferwagen der Pfarrei. In einer Kiste saß der Falke. An unserem Ziel angelangt, nahm Pater Pietro den Falken heraus und ließ ihn fliegen. Ich sah, wie er sich auf eine im Flug entsetzt innehaltende Taube stürzte. Ein Fenster in einem Haus mit Sozialwohnungen flog auf, und eine alte Frau schrie uns etwas zu und drohte uns mit der Faust. Pater Pietro lachte. Der Wind bauschte unsere Soutanen. Wieder zurück, erfuhr ich, dass der Falke Turco hieß. Als nächstes nahm ich den Zug nach Turin, wo ich mich mit Pater Angelo von der Kirche San Paolo del Soccorso traf, auch er versiert in der Kunst der Beizjagd. Sein Falke, er hieß Otello, war der Schrecken sämtlicher Tauben von Turin, obwohl keineswegs der einzige in der Stadt, wie Pater Angelo mir anvertraute, der gewichtige Gründe zu der Annahme hatte, dass irgendwo in einem Viertel von Turin, wahrscheinlich im Süden der Stadt, ein weiterer Falke lebte und dass Otello bei seinen luftigen Ausflügen schon einige Male den Kurs des anderen gekreuzt haben musste. Beide Raubvögel machten Jagd auf Tauben und hatten im Prinzip keinen Grund, einander zu fürchten, aber Pater Angelo war der Meinung, der Tag des feindlichen Zusammenstoßes der beiden Falken sei nicht mehr fern. In Turin blieb ich länger als in Pistoia.
Später nahm ich den Nachtzug nach Straßburg, wo Pater Joseph einen Falken namens Xenophon besaß, einen Raubvogel von bläulicher Schwärze, der bisweilen, wenn Pater Joseph die Messe las, hoch oben über einer vergoldeten Basspfeife auf der höchsten Erhebung der Orgel Platz nahm, und manchmal, wenn ich kniend dem Worte Gottes lauschen wollte, spürte ich den Blick des Falken in meinem Nacken, seine stechenden Augen, und dann zerstreute ich mich, indem ich an Bernanos und Mauriac dachte, die Pater Joseph in einem fort las, auch an Graham Greene, den nur ich las, nicht jedoch Pater Joseph, denn die Franzosen lesen ausschließlich Franzosen, obwohl wir einmal bis spät in die Nacht, ohne zu einer Einigung zu kommen, über Greene stritten. Wir sprachen auch über Burson, einen Priester und Märtyrer aus dem Maghreb, über dessen Leben und apostolische Sendung Vuillamin ein Buch geschrieben hatte, das Pater Joseph mir schenkte, und auch über den Abbé Pierre, einen Bettelbruder, an dem sich Pater Joseph sonntags ergötzte, den er aber montags nicht ausstehen konnte.
Und dann verließ ich Straßburg und fuhr nach Avignon mit seiner Kirche Notre Dame du Midi, wo Pater Fabrice das Priesteramt versah und einen in der ganzen Gegend für seine Gefräßigkeit und Grausamkeit berüchtigten Falken namens Halt's-Maul sein eigen nannte, und mit diesem Geistlichen verbrachte ich unvergessliche Stunden, während Halt's-Maul umherflog und dabei nicht nur Tauben, sondern auch Stare vernichtete, die in jenen fernen und glücklichen Tagen noch die provenzalischen Lande bevölkerten, welche auch Sordel durchwandert hatte - Sordel? Sordello? Welcher Sordello? -, und Halt's-Maul flog davon und verlor sich zwischen niedrigen Wolken, den Wolken, die von den geschändeten und gleichzeitig reinen Hügeln Avignons herabwallten, und während Pater Fabrice und ich uns unterhielten, erschien mit einemmal Halt's-Maul wieder, wie ein Blitz oder die Abstraktion davon, um über die gewaltigen Starengeschwader herzufallen, die wie Mückenschwärme von Westen her auftauchten und mit ihrem erratischen Geflatter den Himmel schwärzten, einem Geflatter, das innerhalb weniger Minuten zu einem Massaker wurde, blutig zerstiebend und die Dämmerung über den Vorstädten Avignons mit einem kräftigen Rot färbend, wie das Rot der Sonnenuntergänge, die man aus dem Fenster eines Flugzeugs beobachten kann, wenn man, sanft geweckt und das surrende Geräusch der Motoren in den Ohren, den kleinen Vorhang beiseite schiebt und am Horizont eine Linie erkennt, rot wie eine Vene, die Femoralvene, die schwellende Aorta des Planeten, sie war es, die ich im Himmel über Avignon erblickte, den blutgetränkten Starenflug, die wie von der Palette eines abstrakten Expressionisten stammenden Flugbewegungen des Falken, ach, der Friede, die Harmonie der Natur, nirgendwo zeigen sie sich so offen und eindeutig wie hier in Avignon, und dann pfiff Pater Fabrice, und wir warteten eine geraume Zeit, skandiert allein vom Schlag unserer Herzen, ehe sich der bebende Falke auf seinem Arm niederließ.
Und wieder nahm ich den Zug, tieftraurig schied ich von Avignon und begab mich in spanische Lande, und selbstverständlich war Pamplona der erste Ort, wo ich meine Aufwartung machte und wo man die Kirchen mit anderen Methoden zu erhalten suchte, Methoden, die mich jedoch nicht interessierten, wahrscheinlich kümmert sich in Wahrheit sowieso niemand darum, aber hier musste ich den Brüdern vom Opus meine Aufwartung machen, die mich wiederum den Verlegern des Opus, den Kollegvorstehern des Opus und dem Rektor der Universität vorstellten, der ebenfalls dem Opus angehörte, sie alle zeigten sie sich höchst interessiert an meinen literaturkritischen Arbeiten, an meiner Arbeit als Dichter und Dozent, und boten mir sogleich an, ein Buch zu veröffentlichen, großherzig, wie sie sind, die Spanier, und formvollendet, denn am folgenden Tag unterschrieb ich einen Vertrag, und danach händigten sie mir einen Brief aus, einen Brief von Señor Odeim, in dem er fragte, wie es mir denn so ginge in Europa, wie mir das Klima bekomme, das Essen und wie mir die Baudenkmäler gefielen, ein vollkommen lächerlicher Brief, der nichtsdestoweniger einen weiteren Brief in sich zu verbergen schien, nicht zu entziffern und sehr viel ernsteren Inhalts, der mich mit großer Sorge erfüllte, obwohl ich keine Ahnung hatte, was in dem verschlüsselten Brief stand, ja, ich war mir nicht einmal sicher, ob denn überhaupt, irgendwo zwischen den Zeilen des lachhaften Schreibens, ein verschlüsselter Brief existierte.
Und dann, nach vielen Umarmungen, Empfehlungen und allen Sorten von Abschiedsbekundungen, verließ ich Pamplona und kam nach Burgos, wo mich bereits Pater Antonio erwartete, ein früh gealterter Priester und Besitzer eines Falken namens Rodrigo, der allerdings keine Tauben jagte, zum Teil, weil das Alter es dem Pater nicht mehr erlaubte, seinen Raubvogel auf dessen Jagdausflügen zu begleiten, zum Teil, weil nach der anfänglichen Begeisterung im Kirchsprengel eine Periode des Zweifels angebrochen war, ob man sich mit Hilfe solch wirkungsvoller Methoden jene Vögel vom Hals schaffen dürfe, bei denen es sich schließlich, Exkremente hin, Exkremente her, auch um Geschöpfe Gottes handelte.
So ernährte sich also der Falke Rodrigo zu der Zeit, als ich nach Burgos kam, ausschließlich von Geschnetzeltem, Hackfleisch und Innereien, die Pater Antonio und seine Dienerin auf dem Markt kauften, Leber, Herz, Schlachtabfälle, und durch die mangelnde körperliche Übung befand er sich in einem bejammernswerten Zustand, einem Zustand des Verfalls, nicht unähnlich dem von Pater Antonio, dessen Wangen von zur Unzeit durchlebter Reue und schlimmsten Zweifeln gezeichnet waren, so dass, als ich nach Burgos kam, Pater Antonio im Bett lag, einer eines armen Priesters würdigen Pritsche, unter einer Decke aus grobem Tuch und in einem großen Zimmer mit Wänden aus unverkleidetem Stein, und der Falke saß in einer Ecke, zitterte vor Kälte, hatte seine Kapuze auf und zeigte nicht die Spur jener Eleganz, die ich in Italien und Frankreich gesehen hatte, ein armer Falke und ein armer Priester, die sich gegenseitig ihrer Lebensgeister beraubten, und der Pater sah mich und versuchte, sich auf einen Ellenbogen zu stützen, so wie ich selbst Jahre, Äonen später, zwei, drei Minuten nachdem der vergreiste Grünschnabel auf die Bühne gewirbelt war, und ich erblickte diesen Ellenbogen samt Arm, dünn wie ein Hühnerschenkel, und Pater Antonio teilte mir seine Gedanken mit. Er sagte: Ich habe mir gedacht, dass das mit den Falken vielleicht keine gute Idee ist, denn obwohl sie die Kirche vor den zerfressenden und auf die Dauer zerstörerischen Folgen der Taubenexkremente bewahren, darf dennoch nicht vergessen werden, dass wir in den Tauben das irdische Symbol des Heiligen Geistes vor uns haben, nicht wahr?

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