Roberto Bolaño: "Chilenisches Nachtstück"
Nicht
vielen chilenischen Autoren
wurde und wird im deutschsprachigen Raum gebührende
Aufmerksamkeit zuteil. Zwar
erfreuen sich die Werke von
Isabel
Allende und
Pablo
Neruda
einiger Breitenwirksamkeit, jedoch gilt Chile ansonsten eher als terra
incognita. Beim Stöbern nach
Literatur aus der Feder chilenischer Schriftsteller
stößt man
beispielsweise auf Luis Sepúlvedas Bücher, auf
"Dantes Geige" der 1958 in Chile geborenen
Autorin Alejandra Rojas, laut DVA "Ein lebenspraller Roman in
der Tradition der
großen lateinamerikanischen Erzähler", den
Roman "Der
Ursprung
der Welt" des 1931 in Santiago de Chile zur Welt gekommenen
Jorge Edwards, "Das
schönste Buch des großen lateinamerikanischen
Schriftstellers Jorge Edwards,
ausgezeichnet mit dem Cervantes-Preis", so der Piper Verlag,
sowie
"Feuerland" von Francisco Coloane (1910-2002), seines Zeichens "Der
größte chilenische Schriftsteller neben Pablo Neruda",
wie der
Unionsverlag zu berichten weiß.
Und wer war Roberto Bolaño?
In "Meyers Lexikon online" findet sich folgender
Eintrag: "Bolaño,
Roberto, chilenischer Schriftsteller, geb. Santiago de Chile 28. 4.
1953, gest.
Barcelona 15. 7. 2003; lebte in Mexiko, später in Spanien;
schrieb Lyrik und v.
a. Prosa. Seine Werke sind geprägt von einem Nebeneinander von
realer und
irrealer Welt, von Komik und Tragik, von Ironie und Verzweiflung.
Bekannt wurde
er mit der skurrilen, fiktiven Literaturgeschichte 'Die
Naziliteratur
in Amerika' (1996). Sein anspielungsreicher
Roman 'Die
wilden Detektive' (1998), der gleichermaßen eine
Satire auf den
Literaturbetrieb und ein Psychogramm der geistig-kulturellen Welt
Mexikos ist,
wurde preisgekrönt."
Dem wäre noch gar Manches hinzuzufügen, u.a. dass
Bolaños mehr als eintausend
Seiten umfassendes, unvollendet gebliebenes Romanmanuskript, sein
posthum erschienenes
opus magnum "2666" erst im Jahre 2009 in deutscher Übersetzung
vorliegt.
Oder dass Roberto Bolaño,
der
"Infrarealist", wie er in manchen Feuilletons genannt wurde, in seiner
spanischen Wahlheimat in einem Krankenhaus
im Alter von 50 Jahren einer Hepatitis erlag, während
er auf eine Lebertransplantation wartete.
Der Autor bezeichnete die avantgardistische "Infrarealistische
Bewegung"
übrigens als "so was wie Dada auf Mexikanisch".
Wie bereits erwähnt, wurde Bolaño 1953 in Santiago
de Chile geboren. Im Jahr
1968 zog er mit den Eltern nach Mexiko um, kehrte 1972 nach Chile
zurück, wo er
Pinochets Militärputsch gegen Salvador Allende miterlebte.
1973 wurde
inhaftiert. Nach seiner Freilassung ging er ins Exil nach Mexiko, nach
Ende der
Franco-Herrschaft wurde er im Jahr 1976 in Spanien sesshaft.
Chilenische Geschichte im Zerrspiegel eines Literaturkritikers
und Opus Dei-Mitglieds
Der Roman besteht aus einem einzigen großen Delirium des
Fieberwahns,
möglicherweise der Phase kurz vor dem Tod, in welchem
Sebastián Urrutia Lacroix, der
Ich-Erzähler, sein Leben und dessen Früchte Revue
passieren
lässt: die wichtigsten Szenen seiner Jugend, seine
Entscheidung
für den Priesterberuf und seine Mitgliedschaft beim Opus Dei,
wie
er von einem älteren Gönner, dem
Literaturpapst seines
Landes in die Welt der Literatur eingeführt wird und bald
selbst
zum einflussreichen Rezensenten (und weniger einflussreichen Dichter)
aufsteigt, seine Zeit in Europa,
wo er in
delikater Mission
verschiedene Kirchen aufsucht, die kurze Allendeära
(während
der er sich in die griechischen Klassiker flüchtet) und die
längere des Augusto Pinochet (in welcher er der
Generalität
einige Unterrichtsstunden im Marxismus - schließlich sollte
man
seinen Feind kennen - zu geben hat), seine wichtigsten Begegnungen mit
chilenischen und ausländischen Schriftstellern, Erfahrungen
und
Lektüreerlebnisse tauchen erneut in seinem irrlichternden
Geist
auf, werden im Spannungsfeld zwischen Selbstanklage und Verteidigung
zwanghaft bewertet.
Die besondere Erzähltechnik Bolaños
dabei ist es, dass Sebastián, der sich selbst für
den liberalsten Opus Dei-Mann Chiles hält, sich bei seinen
Selbstrechtfertigungsversuchen unfreiwillig als ziemlich
jämmerliche Gestalt entpuppt - literarisch allerdings nicht
immer
ganz stimmig, da der intendierte psychologische Realismus manchmal zu
sehr der Lust zu satirischen Szenen weicht. Amüsant zu lesen
ist
es allemal, wie er ein um das andere Mal sein angebliches Christentum
durch völlige Unfähigkeit zu menschlichem
Mitgefühl (von
irgendeiner Art seelsorgerischer Tätigkeit ganz zu
schweigen)
Lügen straft oder eine Vision von der Glorie der Kunst in
Gestalt
eines Raumschiffs, das mit
Ernst
Jünger
als kostbarer Fracht auf dem Weg in die Unsterblichkeit an den
Kordilleren zerschellt ist und nun im ewigen Eis ruht,
empfängt.
In letzter Konsequenz erweist sich Sebastián als
tragische
Gestalt, die aus Egoismus, Bequemlichkeit und nicht zuletzt aus Angst
vor dem Leben in die scheinbar sicheren
Häfen des Katholizismus und der Literatur geflüchtet
ist,
doch langsam ("Nach
und nach beginnt die Wahrheit aufzusteigen wie eine Leiche, wie eine
Leiche, die vom Grund des Meeres aufsteigt"),
spätestens zum Zeitpunkt des Todes, und gewiss zu
spät, mit
dem ganzen Ausmaß ihrer daraus resultierenden
Verdrängungen
konfrontiert werden wird.
Daneben bespiegelt der Roman auch ein gutes Stück chilenischer
Geschichte. In
Geflechten von Abschweifungen und
(erfundenen?) Anekdoten geht es um das Verhältnis von Politik
und Kunst, um Opportunismus, Schuld, Gewissensnot und Mitverantwortung
der
selbsternannten ästhetischen Exilanten in der inneren
Emigration, um Literatur
als exterritoriales bzw. extemporales Refugium, um Kirche und
Gewalt, Moral und Unmoral, um die Kluft zwischen Migranten und
Daheimgebliebenen, um
Mitläufertum - und vor allem natürlich um die
Literaturszene.
Als "Nachtstücke" werden in der Musik träumerische
oder elegische Stücke
bezeichnet, in der Literatur versteht man darunter Schrifttum aus dem
Bereich der dunklen Fantastik, also vorzugsweise nächtliche
Szenerien
mit Geistern und Ausgeburten der Hölle.
Roberto Bolaño verschmolz diese Elemente in seinem
Roman "Chilenisches Nachtstück" zu einem ebenso dichten wie
anspruchsvollen tragikomischen Lektüreerlebnis.
(Irmgard Ernst; 01/2008)
Roberto
Bolaño: "Chilenisches Nachtstück"
(Originaltitel "Nocturno de Chile")
Übersetzt von Heinrich von Berenberg.
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2007. 160 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2010.
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Weitere
Bücher des Autors (Auswahl):
"Exil im Niemandsland. Fragmente einer Autobiografie"
Herausgegeben von Heinrich v. Berenberg.
Roberto Bolaño, in Chile geboren, in Mexiko aufgewachsen, in
Spanien zu
literarischem Weltruhm gelangt und früh gestorben, ist so
etwas wie der
"Fliegende Holländer" Lateinamerikas: wie Wenige hat er das
Exil
kennengelernt - und sich dazu unsentimentale Gedanken gemacht. Sie
bilden den
roten Faden dieser Fragmente zur Autobiografie eines Umhergetriebenen.
Das Lied
vom traurigen Latino, der im kalten Exil die warme Heimat besingt (wo
Mord und
Totschlag herrschen) hat dieser Autor nie mitgesungen.
Bolaño ist sein Leben
lang durch die Welt gereist, gezwungen, freiwillig, immer aber mit
äußerster
Intensität. In diesen Artikeln, Essays und Reisebildern kann
man nachlesen, wie
krumm die Wege waren, auf denen er zum Herold der
lateinamerikanischen
Gegenwartsliteratur wurde. (Berenberg)
zur
Rezension ...
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"Telefongespräche"
Sei es eine Parodie auf die korrupte Preisvergabe im Literaturbetrieb,
ein
meisterhaft arrangierter Dialog zwischen zwei Polizisten, die sich als
die ranghöchsten
Schlächter der chilenischen Militärdiktatur
entpuppen, oder die hinreißende
Liebesgeschichte zwischen einer Hochspringerin und dem Gehilfen eines
russischen
Gangsterbosses: Der Kampf um Geld, Erfolg oder Sex hält
Bolaños Figuren auf
Trab. In diesen 14 traurigen und zugleich schrecklich komischen
Geschichten entführt
uns der große Erneuerer der lateinamerikanischen Literatur in
die Labyrinthe
des Lebens - entlang der Grenze zwischen Fiktion und Realität.
(dtv)
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"2666"
Literatur von einem anderen Planeten. Roberto Bolaños
posthum erschienener
Roman "2666" über die unaufgeklärte Mordserie an
Frauen in Mexiko
ist eine atemberaubende Reise ins finstere Herz der modernen Welt.
Ein Quartett durchgedrehter Germanisten macht sich auf die Suche nach
dem
verschollenen preußischen Schriftsteller Benno von
Archimboldi. Seine letzten
Lebenszeichen kommen aus Santa Teresa, einer Wüstenstadt an
der Grenze zwischen
Mexiko und den USA, in der Hunderte von Frauen vergewaltigt und
ermordet wurden.
Wer sind die Mörder, und was hat der ehemalige Nazisoldat
Archimboldi mit ihnen
zu tun? Auch nach der Verhaftung des Hauptverdächtigen gehen
die Morde weiter,
während von Archimboldi jede Spur fehlt. Bolaño
erzählt mit glänzender
Fabulierlust und abgründigem Witz, und gleichzeitig berichtet
er mit der
erschreckenden Nüchternheit eines Polizeiprotokolls von der
Mordserie, die sich
tatsächlich seit Anfang der 1990er-Jahre in Ciudad
Juárez abspielt. Aus
zahllosen grotesken Lebensläufen - vom argentinischen Snuff-Video-Produzenten
bis zur glamourösen Hamburger Verlegerwitwe, vom
kommunistischen
Kochbuchautor bis zur mexikanischen Fernseh-Hellseherin - entsteht ein
apokalyptisches Bild des 20. Jahrhunderts.
Das literarische Vermächtnis des frühverstorbenen
Chilenen ist Gangster- und
Bildungsroman, Science-Fiction und Reportage.
(Hanser)
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"Die wilden Detektive"
Liebesgeschichten und Todesfälle, Morde und Fluchten,
Irrenhäuser und
Universitäten, Figuren, die verschwinden, und solche, die
mirakulöserweise
stets von Neuem auftauchen: Alles kommt
in diesem Roman
vor. (Hanser)
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"Der
unerträgliche Gaucho"
"Vor vielen Jahren hatte ich einen Freund, der hieß
Jim, und
seitdem habe
ich nie wieder einen so traurigen Nordamerikaner gesehen ... In
Mittelamerika wurde er mehrmals überfallen, was
außergewöhnlich erschien für jemanden, der
ein Marine und als Soldat in Vietnam gewesen war. Keine
Kämpfe
mehr, meinte Jim. Ich bin jetzt Dichter und suche das
Außergewöhnliche, um es mit
gängigen, geläufigen Worten auszudrücken."
"Gängige, geläufige
Worte", das ist die Tonlage dieser fantastischen,
weltläufigen
Geschichten: Ein pensionierter Rechtsanwalt flieht aus dem korrupten
Buenos Aires in die Pampa und trifft dort zu seinem Erstaunen nur
friedfertige
Bauern und kannibalische Kaninchen an. Und Jim, der Todtraurige,
erliegt den
Zaubermächten Mexikos. (Antje Kunstmann Verlag)
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"Die
Naziliteratur in Amerika"
Ein Roman in der Verkleidung eines Literaturlexikons: Dreißig
Lebensläufe von
Nazi-Dichtern aus Süd- und Nordamerika. All diese Autoren
haben nie existiert.
Aber die Virtuosität, mit der hier Literaturgeschichte
imitiert und parodiert
wird, macht ihre ungeheuerlichen Lebensgeschichten und die Geschichte
ihrer bizarren Gedichte, Romane, Poeme und Essays zu Teilen einer
faszinierenden Parallelwirklichkeit. "Die Naziliteratur in Amerika" ist
ein sehr
komisches und ein sehr finsteres Buch. Es versammelt Exzentriker,
Wahnsinnige, Clowns, Fanatiker und Verbrecher mit der Parodie der
amerikanischen
Literatur als Kulisse; stets präsent aber sind die Exzesse des
20.
Jahrhunderts auf beiden Seiten des Atlantiks, geprägt von
Herrenmenschenideologie, Rassismus und
militärischem Wahn. Sie werden hier einem Gelächter
preisgegeben, das dem Leser im Halse steckenbleibt. (Antje Kunstmann
Verlag)
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"Lumpenroman" zur Rezension ...
"Amuleto"
Dies ist die Geschichte einer mutigen, durchgedrehten Frau. Aber auch
die Geschichte jener lateinamerikanischen Studenten, die 1968 im
Kugelhagel
der Armee starben. Eine Frauentoilette in der Universität von
Mexiko: Hier sitzt im September 1968, als die Soldaten einmarschieren
und Studenten und
Professoren
abführen, Auxilio Lacouture, lang und dünn wie
Don
Quijote,
ohne Arbeit, fast
ohne Zähne, dafür aber mit einem großen
Herzen, in dem ganz Lateinamerika und
seine Dichter ihr Zuhause gefunden haben. Unentdeckt hält sie
zwei Wochen lang
aus, - heimgesucht von der Vision des großen Unrechts, dem
sie zufällig
entkommen ist und der Erinnerung an die vielen Lateinamerikaner, die
wie sie in
Mexiko gestrandet sind: Lilian Serpas, Geliebte des
Che; oder Arturo
Belano und
seine Freunde - dichtende Grünschnäbel, politisch
glühende Avantgardisten.
Roberto Bolaño setzte mit "Amuleto" dem lateinamerikanischen
Freiheitskampf ein ergreifendes Denkmal. (Antje Kunstmann Verlag)
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Leseprobe:
Die erste von mir aufgesuchte Kirche
war Santa Maria del Dolore Perpetuo in
Pistoia. Ich hatte erwartet, von einem betagten Geistlichen
empfangen zu werden, aber wie groß war meine
Überraschung,
als mich ein Priester begrüßte, der noch nicht die
Dreißig
überschritten hatte. Pater Pietro, so sein Name,
erklärte mir, Señor
Odeim habe ihm ein Schreiben geschickt, in welchem ihm mein
Besuch angekündigt worden sei, und dass es in Pistoia nicht
etwa
die Luftverschmutzung sei, die den romanischen und gotischen
Baudenkmälern
am ärgsten zusetze, sondern der von Tieren stammende
Unrat, insbesondere die Exkremente der
Tauben,
deren Population
sich sowohl in Pistoia wie auch an vielen anderen europäischen
Orten regelmäßig vergrößert
hätte. Für dieses Problem aber
gebe es eine sichere Lösung, eine Waffe, die sich noch in
ihrem experimentellen
Stadium befände und die er mir am morgigen Tag
vorführen
wolle. Ich entsinne mich, dass ich die Nacht in eine Zimmer
neben der Sakristei verbrachte und dort mehrmals aus meinen
Träumen hochschrak, ohne zu wissen, ob ich mich auf dem Schiff
befand oder in Chile, und einmal angenommen, ich war in Chile,
ob ich dann zu Hause wäre, bei meiner Familie oder im
Priesterkolleg
oder aber im Haus eines Freundes, und obwohl mir für
Augenblicke
die Tatsache dämmerte, dass ich mich im Zimmer neben einer
europäischen Sakristei befand, so wusste ich doch nicht mit
Sicherheit
zu sagen, in welchem Land Europas sich das Zimmer befand
und was ich dort zu suchen hatte.
Am nächsten Morgen weckte
mich eine Angestellte der Pfarrei. Sie hieß Antonia und
sagte: Pater,
Don Pietro erwartet Sie, gehen Sie schnell, sonst schimpft er mit
Ihnen. Genau so. Ich wusch mich also, legte meine Soutane an und
ging hinaus in den Innenhof des Pfarreigebäudes, wo ich den
jungen
Pater Pietro antraf, der eine sehr viel sauberere Soutane als ich trug
und dessen linke Hand in einem plumpen großen,
handschuhartigen
Gebilde aus Leder und Metall steckte, und während ich
hoch in der Luft über dem Himmelsquadrat, welches sich
über den
gelblichen Mauern öffnete, den Schatten eines Vogels
erspähte, erblickte
mich seinerseits Pater Pietro und sagte: Gehen wir auf den Glockenturm,
und ohne ein weiteres Wort folgte ich ihm, und so erklommen
wir, schweigend und die Anstrengung des Weges kostend,
die Spitze des Glockenturms, auf der angelangt Pater Pietro pfiff
und die Arme schwenkte, bis der Schatten vom Himmel
herabstieß
und sich auf dem großen Handschuh an der linken Hand des
Italieners niederließ, und ich, ohne nötige
Erklärungen, selbst erkennen
konnte, dass es sich bei dem dunklen, über der Kirche Santa
Maria
del Dolore Perpetuo fliegenden Vogel um einen Falken handelte
und sich Pater Pietro in einen Meister der Falknerei verwandelt
hatte und dies die zur Verwendung anstehende Hilfsmaßnahme
zur Ausrottung der um die alte Kirche herum hausenden
Tauben war, und ich sah die Treppe hinunter, die in den Innenhof
und zum gepflasterten Platz vor der Kirche hinabführte, und so
sehr ich auch spähte, ich sah keine einzige Taube.
Am Nachmittag führte
mich Pater Pietro an einen anderen Ort in Pistoia, wo es weder
kirchliche
Gebäude noch zivile Baudenkmäler gab, noch sonst
etwas, was
es verdient hätte, vor dem Zahn der Zeit geschützt zu
werden.
Wir
fuhren in dem kleinen Lieferwagen der Pfarrei. In einer Kiste
saß
der
Falke. An unserem Ziel angelangt, nahm Pater Pietro den Falken heraus
und ließ ihn fliegen. Ich sah, wie er sich auf eine im Flug
entsetzt
innehaltende Taube stürzte. Ein Fenster in einem Haus mit
Sozialwohnungen
flog auf, und eine alte Frau schrie uns etwas zu und drohte
uns mit der Faust. Pater Pietro lachte. Der Wind bauschte unsere
Soutanen. Wieder zurück, erfuhr ich, dass der Falke Turco
hieß.
Als nächstes nahm ich den Zug nach Turin, wo ich mich mit
Pater
Angelo von der Kirche San Paolo del Soccorso traf, auch er versiert
in der Kunst der Beizjagd. Sein Falke, er hieß Otello, war
der
Schrecken
sämtlicher Tauben von Turin, obwohl keineswegs der einzige
in der Stadt, wie Pater Angelo mir anvertraute, der gewichtige
Gründe
zu der Annahme hatte, dass irgendwo in einem Viertel von Turin,
wahrscheinlich im Süden der Stadt, ein weiterer Falke lebte
und
dass Otello bei seinen luftigen Ausflügen schon einige Male
den
Kurs
des anderen gekreuzt haben musste. Beide Raubvögel machten
Jagd
auf Tauben und hatten im Prinzip keinen Grund, einander zu
fürchten, aber Pater
Angelo war der Meinung, der Tag des feindlichen
Zusammenstoßes der beiden Falken sei nicht mehr fern. In
Turin blieb ich länger als in Pistoia.
Später nahm ich den Nachtzug nach
Straßburg, wo Pater Joseph einen Falken namens Xenophon
besaß,
einen Raubvogel von bläulicher Schwärze, der
bisweilen, wenn
Pater Joseph die Messe las, hoch oben über einer vergoldeten
Basspfeife
auf der höchsten Erhebung der Orgel Platz nahm, und manchmal,
wenn ich kniend dem Worte Gottes lauschen wollte, spürte
ich den Blick des Falken in meinem Nacken, seine stechenden Augen,
und dann zerstreute ich mich, indem ich an Bernanos und Mauriac
dachte, die Pater Joseph in einem fort las, auch an Graham
Greene,
den nur ich las, nicht jedoch Pater Joseph, denn die Franzosen
lesen ausschließlich Franzosen, obwohl wir einmal bis
spät
in die Nacht, ohne zu einer Einigung zu kommen, über Greene
stritten.
Wir sprachen auch über Burson, einen Priester und
Märtyrer aus
dem Maghreb, über dessen Leben und apostolische Sendung
Vuillamin
ein Buch geschrieben hatte, das Pater Joseph mir schenkte, und
auch über den Abbé Pierre, einen Bettelbruder, an
dem sich Pater Joseph
sonntags ergötzte, den er aber montags nicht ausstehen konnte.
Und dann verließ ich Straßburg und fuhr nach
Avignon mit
seiner
Kirche Notre Dame du Midi, wo Pater Fabrice das Priesteramt versah
und einen in der ganzen Gegend für seine
Gefräßigkeit
und Grausamkeit
berüchtigten Falken namens Halt's-Maul sein eigen nannte,
und mit diesem Geistlichen verbrachte ich unvergessliche Stunden,
während Halt's-Maul umherflog und dabei nicht nur Tauben,
sondern auch Stare vernichtete, die in jenen fernen und
glücklichen
Tagen noch die provenzalischen Lande bevölkerten, welche
auch Sordel durchwandert hatte - Sordel? Sordello? Welcher Sordello? -,
und Halt's-Maul flog davon und verlor sich zwischen niedrigen
Wolken, den Wolken, die von den geschändeten und gleichzeitig
reinen Hügeln Avignons herabwallten, und während
Pater
Fabrice und ich uns unterhielten, erschien mit einemmal Halt's-Maul
wieder, wie ein Blitz oder die Abstraktion davon, um über
die gewaltigen Starengeschwader herzufallen, die wie
Mückenschwärme
von Westen her auftauchten und mit ihrem erratischen
Geflatter den Himmel schwärzten, einem Geflatter, das
innerhalb
weniger Minuten zu einem Massaker wurde, blutig zerstiebend
und die Dämmerung über den Vorstädten
Avignons mit einem
kräftigen Rot färbend, wie das Rot der
Sonnenuntergänge,
die man
aus dem Fenster eines Flugzeugs beobachten kann, wenn man, sanft
geweckt und das surrende Geräusch der Motoren in den Ohren,
den
kleinen Vorhang beiseite schiebt und am Horizont eine Linie erkennt,
rot wie eine Vene, die Femoralvene, die schwellende Aorta des
Planeten, sie war es, die ich im Himmel über Avignon
erblickte,
den
blutgetränkten Starenflug, die wie von der Palette eines
abstrakten
Expressionisten stammenden Flugbewegungen des Falken, ach, der Friede,
die
Harmonie der Natur, nirgendwo zeigen sie sich
so offen und eindeutig wie hier in Avignon, und dann pfiff Pater
Fabrice, und wir warteten eine geraume Zeit, skandiert allein vom
Schlag unserer Herzen, ehe sich der bebende Falke auf seinem Arm
niederließ.
Und wieder nahm ich den Zug, tieftraurig schied ich von
Avignon und begab mich in spanische Lande, und
selbstverständlich
war Pamplona der erste Ort, wo ich meine Aufwartung
machte und wo man die Kirchen mit anderen Methoden zu
erhalten suchte, Methoden, die mich jedoch nicht interessierten,
wahrscheinlich
kümmert sich in Wahrheit sowieso niemand darum, aber
hier musste ich den Brüdern vom Opus meine Aufwartung machen,
die mich wiederum den Verlegern des Opus, den Kollegvorstehern
des Opus und dem Rektor der Universität vorstellten,
der ebenfalls dem Opus angehörte, sie alle zeigten sie sich
höchst interessiert an meinen literaturkritischen Arbeiten, an
meiner
Arbeit als Dichter und Dozent, und boten mir sogleich an, ein Buch
zu veröffentlichen, großherzig, wie sie sind, die
Spanier, und formvollendet,
denn am folgenden Tag unterschrieb ich einen Vertrag,
und danach händigten sie mir einen Brief aus, einen Brief von
Señor Odeim, in dem er fragte, wie es mir denn so ginge in
Europa,
wie mir das Klima bekomme, das Essen und wie mir die
Baudenkmäler
gefielen, ein vollkommen lächerlicher Brief, der
nichtsdestoweniger
einen weiteren Brief in sich zu verbergen schien, nicht
zu entziffern und sehr viel ernsteren Inhalts, der mich mit
großer
Sorge erfüllte, obwohl ich keine Ahnung hatte, was in dem
verschlüsselten
Brief stand, ja, ich war mir nicht einmal sicher, ob denn
überhaupt, irgendwo zwischen den Zeilen des lachhaften
Schreibens,
ein verschlüsselter Brief existierte.
Und dann, nach vielen
Umarmungen, Empfehlungen und allen Sorten von Abschiedsbekundungen,
verließ ich Pamplona und kam nach Burgos, wo
mich bereits Pater Antonio erwartete, ein früh gealterter
Priester und
Besitzer eines Falken namens Rodrigo, der allerdings keine Tauben
jagte, zum Teil, weil das Alter es dem Pater nicht mehr erlaubte,
seinen Raubvogel auf dessen Jagdausflügen zu begleiten, zum
Teil, weil nach der anfänglichen Begeisterung im Kirchsprengel
eine
Periode des Zweifels angebrochen war, ob man sich mit Hilfe solch
wirkungsvoller Methoden jene Vögel vom Hals schaffen
dürfe, bei
denen es sich schließlich, Exkremente hin, Exkremente her,
auch um Geschöpfe
Gottes handelte.
So ernährte sich also der Falke Rodrigo
zu der Zeit, als ich nach Burgos kam, ausschließlich von
Geschnetzeltem,
Hackfleisch und Innereien, die Pater Antonio und seine
Dienerin auf dem Markt kauften, Leber, Herz, Schlachtabfälle,
und durch die mangelnde körperliche Übung befand er
sich
in einem bejammernswerten
Zustand, einem Zustand des Verfalls, nicht unähnlich
dem von Pater Antonio, dessen Wangen von zur Unzeit durchlebter
Reue und schlimmsten Zweifeln gezeichnet waren, so dass,
als ich nach Burgos kam, Pater Antonio im Bett lag, einer eines armen
Priesters würdigen Pritsche, unter einer Decke aus grobem Tuch
und in einem großen Zimmer mit Wänden aus
unverkleidetem Stein,
und der Falke saß in einer Ecke, zitterte vor Kälte,
hatte seine Kapuze
auf und zeigte nicht die Spur jener Eleganz, die ich in Italien und
Frankreich gesehen hatte, ein armer Falke und ein armer Priester, die
sich gegenseitig ihrer Lebensgeister beraubten, und der Pater sah mich
und versuchte, sich auf einen Ellenbogen zu stützen, so wie
ich selbst Jahre,
Äonen später, zwei, drei Minuten nachdem der
vergreiste
Grünschnabel auf die Bühne gewirbelt war, und ich
erblickte
diesen Ellenbogen samt Arm, dünn wie ein
Hühnerschenkel, und
Pater Antonio teilte mir seine Gedanken mit. Er sagte: Ich habe mir
gedacht, dass das mit den Falken vielleicht keine gute Idee ist, denn
obwohl sie die Kirche vor den zerfressenden und auf die Dauer
zerstörerischen
Folgen der Taubenexkremente bewahren, darf dennoch
nicht vergessen werden, dass wir in den Tauben das irdische Symbol
des Heiligen
Geistes
vor uns haben, nicht wahr?