Henning Boëtius: "Der Strandläufer"


Der deutsche Schriftsteller Henning Boysen, das Alter Ego des Autors, ist ein erfolgreicher Mann. Viele seiner Bücher waren Bestseller, doch sein letztes, obwohl von den Kritikern hoch gelobt, hat sich nur schlecht verkauft. Sein Verleger dringt auf einen schnellen Nachfolger, am besten ein Buch über einen Piraten, um wieder an den gewohnten Erfolg anzuschließen.

Henning Boysen, dessen Vater Edmund man aus Boëtius' letztem Roman "Phönix aus Asche" kennt, hat sich in eine italienische Stadt zurückgezogen. Südlich von Rom, hoch über dem Meer gelegen, verfügt diese Stadt über verwinkelte Gassen, zahllose Fischerkneipen und viele wunderbare Orte, die einen faszinierenden Ausblick auf das Meer bieten.
Boysen lebt in einem Anbau von Ugos Haus, einem passionierten Gärtner, mit dem er sich immer wieder unterhält. Mit in Ugos Haus lebt Carla, eine junge, attraktive, aber etwas exzentrische Malerin, in die sich Boysen sofort verliebt und mit der er später eine nicht ganz einfache Beziehung hat. Sein neues Buchprojekt macht keine Fortschritte. Boysen verletzt sich eines Tages am Bein und muss lange das Bett hüten. Als Carla ihm Essen und andere Dinge des täglichen Gebrauchs ans Bett bringt, ist es um ihn geschehen.

Als er wieder laufen kann, lernt er in der "Gorillabar" einen Strandläufer mit einer ausgeprägten Lebensphilosophie kennen. Nach ihm hat Boëtius seinen Roman benannt. In langen Gesprächen mit dem Strandläufer Luigi bekommt Boysen einer erste Ahnung von dem, was ihn am Schreiben hindert. Luigi sagt:
"Ich sage dir, wenn du Schriftsteller bist, wie du behauptest, dann verschwende bloß keinen Gedanken an irgendeine Geschichte, eine Handlung, eine reale Person. Sei lieber so etwas wie ein Strandläufer der Literatur. Entdecke das Meer in dir und sammle auf, was es aus der Tiefe deines Daseins anspült. Schreib einfach drauflos, lausche dabei dem Klang deiner Sprache und betrachte die Bilder, die sie erzeugt. Andernfalls schminkst du mit deinen Worten nur eine Leiche."

Der Turm, in dem der berühmte Forscher Marconi einst seine Versuche unternahm, wird für Boysen zu einem Aufenthalts -und Wohnort, zu dem viel später auch Carla stößt. Doch zunächst muss er auf zwei Briefe reagieren, die gleichzeitig ankommen und die Carla ihm bringt. Einer ist von seinem Verleger, der höflich drängend nach dem Entwicklungsstand des neuen Romans fragt, und der zweite von seinem Vater, der in ein Altersheim umziehen will und seinen Sohn um Hilfe dabei bittet.
Als Henning auf der Heimreise im Zug nach Rom zufällig auf Carla trifft, erzählt er:
"Mein Vater war ein Bilderbuchseemann. Eigentlich hätte er nach dem Willen seines Vaters Arzt werden sollen, aber dann starb sein Vater an Krebs, und er heuerte auf einem kleinen Küstenfrachtschiff als Jungmann an. Er hatte da schon Abitur, einen schwierige Situation für einen, der sich in der christlichen Seefahrt ganz am Anfang befand."

Doch sein Vater machte Karriere, schildert Boysen der jungen Frau, später sei er sogar mit dem Luftschiff "Hindenburg" gefahren und habe dessen Absturz in Lakehurst nur knapp überlebt. Nun, neunzigjährig, wolle er sein Haus aufgeben und habe ihn dabei um Hilfe gebeten.
Sie antwortet: "Schön, dass du in deine Erinnerungen fährst, Zingaro. Aber du musst wiederkommen!"

Und dann erzählt Boëtius in bewegender und anrührender Weise, wie sich Vater und Sohn begegnen, wie diese Begegnung die Erinnerung beim Sohn wachruft, nicht nur an den Vater, sondern auch an die äußert schwierige Mutter. Henning Boysen notiert all diese zum Teil sehr schmerzhaften Erinnerungen und gibt sie nach seiner Rückkehr nach Italien Carla zu lesen. Die eröffnet ihm mit ihrer Rückmeldung einen ganz neuen Blick, besonders auf seine Mutter. Und "der Sohn", wie Boysen sich selbst distanzierend in seinen Aufzeichnungen nennt, schreibt wieder alles auf und macht so einen selbstbefreienden Schritt nach dem anderen.

Als er ein weiteres Mal nach Deutschland gerufen wird, liegt sein Vater im Sterben. Boysen steht ihm bei, organisiert die Beerdigung, löst den Nachlass auf, lässt die ihm wichtigen Möbel und Unterlagen nach Italien schaffen und verstaut sie in Marconis Turm. Immer mehr nähert er sich diesem Wissenschaftler an, und am Schluss wird er ein Buch über ihn schreiben. Es trägt den Titel: "Der Freibeuter der Wellen", und er kann es schreiben, weil er sich von einem anderen Freibeuter ganz anderer Wellen, seinem Vater, gelöst hat.
Er ist frei, zum ersten Mal in seinem Leben wirklich frei, so gefestigt in sich selbst, dass ihn auch ein tragisches Unglück am Ende des Buches von seinem Weg nicht mehr abbringen kann.

Henning Boëtius hat ein wunderbares Buch über die Kraft der Erinnerung und der Poesie geschrieben; ein Buch über das Erwachsenwerden im fortgeschrittenen Lebensmittelalter, eine kritische und schonungslose, aber dennoch liebevolle und deshalb befreiende Annäherung an die Eltern, die erst wirkliche erwachsene Freiheit ermöglicht. Möge sie den Leser ermutigen, diese Befreiungsarbeit im eigenen Leben zu wagen, falls sie nicht schon längst geschehen ist.

(Winfried Stanzick; 09/2006)


Henning Boëtius: "Der Strandläufer"
btb, 2006. 335 Seiten.
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Henning Boëtius, geboren 1939, lebt in Berlin. Er ist Autor zahlreicher, von der Kritik hochgelobter Romane und der Kriminalromane um den holländischen Inspektor Piet Hieronymus.

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):


"Phönix aus Asche"

"Phönix aus Asche" ist ein brillant geschriebenes Epos voller unvergesslicher Charaktere. Der Roman ist das großartige Porträt zweier Männer, die, jeder auf seine Weise, nach persönlicher Erfüllung und der großen Liebe suchen. Er ist aber auch das zutiefst authentische und minuziös recherchierte Porträt der Welt der Luftschiffe und des faszinierenden Lebens von Passagieren und Besatzung an Bord dieser riesigen und luxuriösen "Titanic der Lüfte". Vor allem aber ist Henning Boëtius' Buch das großangelegte Panorama einer Zeitenwende in Europa: des Verglühens der "Alten Welt" in den Feuerstürmen des Zweiten Weltkriegs, das angekündigt wurde in den Flammen der Bücherverbrennungen, des Reichstagsbrands und der Reichskristallnacht, aber auch, wenn man so will, in der Explosion des "Hindenburg", dem danach vielleicht prominentesten Symbol für Frieden und Völkerverbindung. (btb)
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"Die blaue Galeere"

Von der Inquisition auf Lebenszeit aus seiner Heimatstadt Antwerpen verbannt, trifft der holländische Maler Jan Massys 1550 in Genua ein. Die italienische Hafenstadt ist vom mittelalterlichen Leben im Labyrinth ihrer engen Gassen genauso geprägt wie von der Kultur der Renaissance. Völlig verarmt und vereinsamt, sieht Massys sich an einem Tiefpunkt seines Lebens angelangt. In dieser Situation grenzt es an ein Wunder, dass Massys unerwartet den Auftrag erhält, ein Porträt des "Principe" zu malen. Sein Name: Andrea Doria, ehemaliger Korsar, jetzt Admiral des Kaisers und Herrscher Genuas. In langen Gesprächen während der "Sitzungen" lernt er den bereits über achtzigjährigen Fürsten kennen. Doria enthüllt ihm seine geheimsten Ideen und Erfahrungen, aber auch seine Sorgen und Ängste. Sechs Jahre bleibt Massys im Banne des charismatischen Doria. Er begleitet ihn auf seinen letzten Seezügen gegen den türkischen Korsar Dragut. Er lernt die Urgewalten des Meeres und die Grausamkeit des Krieges ebenso kennen wie - in der Begegnung mit einer schönen Schauspielerin - die Verlockungen und das Leid der Liebe. Am Ende malt er ein grandioses Porträt des Admirals, mit dem er sich zugleich als Künstler endlich von dem Schatten seines übermächtigen Vaters, des berühmten Malers Quentin Massys, befreit. (btb)
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"Rom kann sehr heiß sein"
Piet Hieronymus ist verliebt, zum ersten Mal seit Jahren: Seit seinen letzten Ermittlungen in Schottland führt der kauzige Kommissar eine Fernbeziehung mit seiner schottischen Kollegin Dale Mackay. Als diese eines Tages unerwartet bei ihm vor der Tür steht, ist er mehr als glücklich und verbringt mit ihr einige unbeschwerte Tage. Dann zieht Dale weiter, angeblich zu einem Fortbildungslehrgang nach Bern. Doch nach ihrer Abreise verlieren sich ihre Spuren: Sie meldet sich nicht mehr bei Piet, und auch telefonische Nachfragen ergeben keinen Hinweis auf Dale und ihren Verbleib. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Zutiefst beunruhigt, beschließt Piet Hieronymus, nach Bern zu fahren und dort selbst nach dem Rechten zu sehen. Es ist der Anfang einer langen Reise, die ihn schließlich bis nach Rom führt, mitten hinein in einen Sumpf aus Korruption und skrupellosen Machenschaften ... (btb)
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