Andrej Blatnik: "Der Tag, an dem Tito starb"

Und andere Erzählungen


Gedanken als Barrieren

Die Möglichkeit
"Und dann sagt sie, besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass all unser Schlussfolgern falsch war. Dass wir die ganze Zeit von falschen Überzeugungen ausgegangen sind, dass wir uns die Dinge verkehrt vorgestellt haben: Das, von dem wir glaubten, damit hätte die Geschichte begonnen, das war genau genommen ihr Schluss.
Ja, sagte er, das ist möglich. Natürlich möglich.
Dann schwiegen sie lange."
(Seite 98)

Gedanken, sagt man, seien frei. Wahrscheinlich meint man damit, sie seien freier als der Mensch selbst, der mit seinem Körper in Zeit und Raum gefangen bleibt.
Doch in Andrej Blatniks Erzählungen unterschiedlichster Länge (von einer Zeile bis zu siebenunddreißig Seiten) gleichen die Gedanken der Protagonisten eher Gewitterwolken: unvermutet tauchen sie aus heiterem Himmel auf, ziehen Vermutungen und Mutmaßungen wie dunkle Schatten an sich, um sich weiter aufzubauschen und sich schließlich im Gewitterregen rasch aufzulösen. Was bleibt, sind klebriger Schlamm und unwegsamer Morast zwischen den Menschen.

Blatniks Figuren, Jugendliche, Kinder, verlorene Großstadtbewohner - keine prominenten oder in anderer Weise hervorragenden Personen - treffen ihresgleichen, begegnen einander aber kaum, hüllen sich in ihre Gedankenwelten und verlieren sich darin. Manchmal erinnern sie in ihrer Verlorenheit auch an Charlie Chaplin und andere Antihelden, deren Begegnung mit ihrer Umwelt in der selbst schädigenden Komik des Slapsticks endet.

Leser, die über Blatniks Protagonisten lachen, sie bemitleiden und bedauern, sie vielleicht auch für lebensuntüchtig halten, tun dies aus eigenem Antrieb. Der Autor enthält sich jeder Wertung und jedes Kommentars. Er berichtet in einer neutralen Sprache, schreibt, was die Menschen tun, sagen und denken - nicht mehr. Doch der Entfremdung von ihrer Umwelt und ihrer Ratlosigkeit, mit der sie anderen Menschen und eigenen Gedanken begegnen, kann sich kein lesender Beobachter oder beobachtender Leser entziehen. Die eigenen Gedanken ziehen die Leser in die Geschichten hinein, stellen sich den Mutmaßungen der Protagonisten entgegen und schaffen ironische Paradoxie: Warum sagt er seiner argwöhnischen Ehefrau nicht einfach, dass er Nächte lang bloß spazieren geht und Musik hört, fragt man sich angesichts der Sprachlosigkeit in "RaÏ", der sechzehnten und letzten Erzählung. Ein Wort könnte genügen, um den Verdacht zu zerstreuen. Aber dazu wird es nie kommen. Eine befremdliche Eigengesetzlichkeit isoliert die Menschen von ihrer Umgebung.

Die slowenische Originalausgabe heißt Menjave ko
ž ("Hautwechsel") und erschien schon 1990. Mit bisher sieben Übersetzungen, die bis auf die nach einer Erzählung benannten deutschen Ausgabe alle den Originaltitel beibehalten haben, ist diese Sammlung das verbreitetste Buch des 1963 in Ljubljana geborenen Andrej Blatnik.

Der Autor war auch Gitarrist einer slowenischen Punkband und studierte vergleichende Literaturwissenschaft und Soziologie in seiner Heimatstadt.

Zu seinen bisherigen Werken gehören zwei Romane, Plamenice in solze ("Fackeln und Tränen", 1987) und Tao ljubezni ("Das Tao der Liebe", 1996), vier Sammlungen von Erzählungen und Kurzgeschichten: Šopki za Adama venijo ("Blumensträuße für Adams Welken", 1983), Biografije brezimenih ("Biografien der Namenlosen", 1989), Menjave kož ("Hautwechsel", 1990 - deutsche Ausgabe Der Tag, an dem Tito starb, 2005) und Zakon želje ("Gesetz des Wunsches", 2000 - deutsche Ausgabe Das Gesetz der Leere, Wien/Bozen: Folio, 2001). Außerdem veröffentlichte er Essays zu amerikanischer zeitgenössischer Literatur und übersetzte unter anderem Anaïs Nin, Sylvia Plath, Stephen King und Paul Bowles. Er arbeitet derzeit als Herausgeber in einem großen slowenischen Verlag.
Zahlreiche Preise, Lesereisen und Literaturstipendien weisen Andrej Blatnik als einen der renommiertesten zeitgenössischen slowenischen Autoren aus, der es versteht, seine Prosa als literarisches Echo von Kommunikationsstörungen und dialogischer Absurdität wirken zu lassen.

Ein Lesetipp: Der Autor hat eine eigene Netzseite (Lien: https://www.andrejblatnik.com/), größtenteils in englischer und slowenischer Sprache, mit ausführlicher Bibliografie, zahlreichen Rezensionen und Interviews sowie empfehlenswerten Essays (z.B. "Mickey Mouse Travels East - Cultural Shifts in Post-Communist Europe" (Lien: https://www.andrejblatnik.com/mickey.html).

(Wolfgang Moser; 03/2005)


Andrej Blatnik: "Der Tag, an dem Tito starb"
Aus dem Slowenischen von Klaus Detlef Olof.
Folio, 2005. 129 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:

"Das Gesetz der Leere. Erzählungen"

Wenn der Sturm der Geschichte plötzlich abflaut, sind wir am Ende der "großen Geschichten" angelangt. So lässt sich die äußere - ex-jugoslawische - Welt umschreiben, in der sich die Figuren dieser 16 Erzählungen bewegen. Es ist ein Buch über das Reden und Sich-Mitteilen, oder besser: über das Verstummen und Verkümmern, über die Kommunikationsunfähigkeit und die Unmöglichkeit, einander zu verstehen, die die Menschen in abstruse Situationen treibt: etwa den Ehemann, der regelmäßig flüchtet, um von irgendeinem Stadthotel aus seinen kleinen Sohn anzurufen, oder die junge Frau, die dafür bezahlt wird, am Telefon gehörte Geschichten niederzuschreiben und sie so für die Erzählenden erträglich zu machen. Andrej Blatnik, Meister des reduzierten Dialogs, verstrickt den Leser in ein Netz von intertextuellen Bezügen, wie zu Carver, Borges oder zu Altmans "Short Cuts". (Folio)
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