Andrej Bitow: "Das Puschkinhaus"
Skurriles Spiel mit Schein und Wirklichkeit in der Literatur
Am Jahrestag der Oktoberrevolution, irgendwann in den Sechzigerjahren,
liegt der etwa dreißigjährige Literaturwissenschaftler Ljowa
Odojewzew offensichtlich
tot im völlig verwüsteten Leningrader Puschkinhaus,
dem Museum, in dem er während
der letzten Jahre gearbeitet hat. Dem Anschein nach hat er sich nach
dem Genuss von reichlich Alkohol duelliert.
So beginnt Andrej Bitows Roman "Das Puschkinhaus", und mit dieser
Szene endet er auch. Dazwischen liegt die Schilderung von Ljowas Leben,
einem im Grunde vergleichsweise faden Intellektuellenleben in der
Nachkriegs-Sowjetunion
und unter Chruschtschow. Ljowas Weg wirkt vorherbestimmt, waren doch
sein Großvater und sein Vater bereits erfolgreiche Geisteswissenschaftler.
Doch die Familie hat, wie man so sagt, eine Leiche im Keller: Ljowas
Vater hat seinen eigenen Vater denunziert, um an dessen Lehrstuhl zu gelangen,
und der Großvater musste den Großteil seiner Lebensjahre im Arbeitslager
verbringen. Es ist eine seltsame, steril anmutende Atmosphäre, in der Ljowa
aufwächst; der Vater verhält
sich dem Sohn gegenüber ungeschickt und abweisend, Ljowa wirkt
isoliert. Eine eigenartige Rolle nimmt der ältere, allein stehende Nachbar
der Familie ein, "Onkel Dickens", von dem die Familie Odojewzew glaubt, sie vermittle
ihm bei seinen häufigen Besuchen in ihrer Wohnung
familiäre Geborgenheit, während
in Wirklichkeit "Onkel Dickens" als Kitt zwischen den
Familienmitgliedern fungiert.
Insgesamt aber wirkt Ljowas Leben wahrlich nicht spektakulär.
Er hat drei Freundinnen, eine, die er will und die ihn nur erhört, wenn
sie nichts Besseres vorhat, eine, die ihn begehrt und verehrt und die er nur
erhört, wenn er frustriert ist, und eine, mit der er einmal zusammen ist und einmal
nicht, je nach ihren Launen. Wie ein böser Geist scheint ihn indes
Mitischatjew zu umschweben, ein ehemaliger Schulkamerad, neidisch auf Ljowas Herkunft
und Erfolge. Mitischatjew beherrscht und erniedrigt Ljowa, dem es trotz
mancher - zumeist halbherziger - Bemühung nicht gelingt, sich von
Mitischatjew zu befreien. Daraus resultiert schließlich das Duell in Ljowas
angestammter Domäne, dem Puschkinhaus.
Wie bereits erwähnt, böte Ljowas Leben eigentlich
wenig Stoff für einen Roman, ginge es nur um eine Biografie. Weder Ljowa selbst noch die
Zeit, in der er die Schule abschließt, studiert und schließlich
mit seiner Dissertation beginnt, sind interessant, wenn man sie an anderen Schicksalen und
Epochen aus der jüngeren russischen beziehungsweise sowjetischen
Geschichte misst. Andrej Bitow aber hat seinen Protagonisten bewusst zu einer Art
unauffälligem Mauerblümchen gemacht und lässt die Geschichte um ihn sich mehr und mehr hin
zur Fantastik, zum Irrealen wenden. Anlehnungen an Puschkin
und weitere Größen der russischen
Literatur verleihen dem Roman ein eigenartig zwischen diversen Zeiten
und Räumen
schwebendes, skurriles Flair, auch lassen sich unschwer Anspielungen
auf James
Joyce und Franz
Kafka erkennen: eine kühne, bisweilen
aberwitzig anmutende und doch immer mit leichter Hand nachgezeichnete Reise durch immer fremder
erscheinende Dimensionen. Elegant schließt Bitow den Bogen,
der mit dem leblos zwischen zerstörten Exponaten im Puschkinhaus liegenden Ljowa
begann, mit ebendiesem Szenario, und doch bleibt das Ende offen, denn die
Geschichte hätte
ja nicht so ausgehen müssen. Und deshalb greift der Autor neue
mögliche Schlüsse
oder Anfänge auf, wie man es nimmt. Auch unabhängig
von Anfang und Ende tun
sich immer wieder gleichberechtigte andere Möglichkeiten auf,
obwohl letztlich immer ein gewisser Fatalismus über Ljowa zu ruhen scheint. Die
Frage nach dem Schicksal, der Vorherbestimmung bildet ein wesentliches Element des
Romans, und der Autor kommentiert selbst, zumeist ironisch oder gar zynisch, die
von ihm verfasste Biografie des fiktiven Ljowa an vielen Stellen.
Ein Buch, das solche Probleme aufwirft und dazu noch, auch in dieser
Hinsicht der Welt
Puschkins verpflichtet, das Leningrad von Ljowas Zeit
Petersburg nennt, konnte den sowjetischen Machthabern nur ein Dorn im Auge sein. 1978
verfasst, erschien es erst im Zuge des Glasnost. Deutschsprachige Leser des 21.
Jahrhunderts dürften mit Ljowas historischem und kulturellem
Umfeld kaum vertraut sein, doch "Das Puschkinhaus" wirkt zeitlos aufgrund seiner
intensiven Beschäftigung mit jederzeit aktuellen, jedermann berührenden
Fragen.
(Regina Károlyi; 11/2007)
Andrej Bitow: "Das Puschkinhaus"
Neuübersetzung aus dem Russischen von Rosemarie Tietze.
Suhrkamp, 2007. 590 Seiten.
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Andrej
Bitow, 1937 in Leningrad geboren, studierter Geologe,
veröffentlichte
seit 1959 Erzählungen, Essays, Romane, Reiseberichte. Im Jahr
1990 erhielt er den russischen "Puschkin-Preis".
Andrej
Bitow verstarb am 3. Dezember 2018
in Moskau.
Zwei weitere Bücher des Autors:
"Georgisches Album" zur Rezension ...
"Der Symmetrielehrer"
Eine Gruppe Geologen sitzt bei schlechtem Wetter in der
Taiga fest. Um die Zeit
zu vertreiben, erzählt der Übersetzer A. B. ein "ausländisches" Buch nach, das
er nur halb verstanden hat und deshalb mit Erfindungen ausschmückt. Zehn Jahre
später - das Buch ist verschollen, sein Inhalt lange vergessen - steht A. B.
plötzlich ein Kapitel vor Augen, vollständig, wie eine Vision. Während sein
Gedächtnis den Text speichert, wird das Ereignis, das die Vision ausgelöst hat,
gelöscht. Aus dieser irritierenden Erfahrung erwächst Andrej Bitows Meisterwerk,
in dem er sich den letzten Dingen des literarischen Daseins zuwendet: dem
Verhältnis zwischen Autor und seinen Geschöpfen; der Schriftstellerexistenz, die
Schuld und Schmerz zurücklässt; der Liebe, die dem Schreiben geopfert wird; und
nicht zuletzt Russland "als Versuch Gottes, die Zeit durch den Raum zu
ersetzen".
Ein ungemein intelligent komponiertes, ironisch gefärbtes, doch unverhohlen
melancholisches Buch. Opus magnum und Lebensbilanz: das Schlüsselwerk eines
Autors von Weltrang. (Suhrkamp)
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