Maxim Biller: "Esra"
Erinnern,
als gäbe es kein Heute.
In München Leere übertünchen.
"Ist
Liebe die letzte Utopie?" wird auf dem Buchumschlag plakativ
gefragt.
Und wer es ganz genau wissen will, schlägt nun vielleicht im
Großen Duden
nach, wo man Folgendes nachlesen kann: "Utopie, die; -, -n
[unter
Einfluss von frz. utopie zu Utopia]: als undurchführbar
geltender Plan;
Idee ohne reale Grundlage" ...
Vier Jahre hat es (bislang?)
gedauert, das unsichere Hin und Her, das Wechselbad im Spannungsfeld
jener schwankenden Beziehung, von der Billers Ich-Erzähler
namens Adam auf 214 Seiten berichtet. In Kapitel 24 stellt sich der
Erzähler die Frage: "Warum liebe ich Esra
überhaupt?"
- das Eingeständnis einer endlosen Abhängigkeit,
einer Illusion?
Was gibt es über Adam
zu sagen? Nun, er war Trauzeuge auf Esras und Fridos (der eigentlich
Dieter heißt) Hochzeit, ist 37 Jahre alt, auffallend
egozentrisch veranlagt und hat eine Tochter namens Stella im
Kindergartenalter aus einer früheren Beziehung. Wie es der
(autobiografische?) Zufall will, ist Adam gebürtiger Prager
dazu leidlich erfolgreicher Schriftsteller, er verkriecht sich
vorzugsweise in Szenelokalen, wenn er nicht daheim über Esra
nachdenkt, und führt ein insgesamt eintöniges Leben,
das wenig Streben nach Entwicklung erkennen lässt.
Esra Adrian-Werkmeister, Adams
Langzeitimmerwieder- bzw. Nichtmehr-Geliebte ist türkischer
Herkunft, hat in vier oder fünf Filmen mitgewirkt, ist zu
Beginn der Beziehung bereits wieder geschieden, Mutter einer todkranken
Tochter namens Ayla (aus der Ehe mit Frido), hat ein Grafikstudium
absolviert und arbeitet als Layouterin. Sie ist
schweigsam,
flatterhaft, unkonzentriert und lebt in einer Einbildungs- und
Traumwelt. Adam bescheinigt ihr
"Sklavinnenmentalität".
Esra will nicht in seinen Texten vorkommen, malt selbst jedoch teils
erschreckende Bilder, in denen Adam sich wiedererkennt. Die junge Frau
neigt dazu, sich in Asthmaanfälle sowie Tagträume zu
flüchten, sie lebt planlos, unabsichtlich - sehr zum Leidwesen
und Ärger all jener, die sich um sie und ihre Tochter sorgen -
sozusagen in ihrer eigenen Welt, ihre Entscheidungen trifft sie stets
spontan, ohne erkennbare Logik.
Eine weitere wichtige Figur ist
Lale, Esras Mutter, Tochter von Hava und Erol, etliche Male
verheiratet. Sie bekam mit 17 Jahren ihr erstes Kind von einem
us-amerikanischen Soldaten, den sie in Izmir kennen lernte und mit dem
sie
nach Virginia auswanderte: Esra. Nach der Trennung von diesem
US-Amerikaner ließ Lale ihre Tochter bei den
Großeltern in der Türkei und blieb einige Zeit in
den USA. Ihr nächster Gemahl war Anwalt in München,
Lale riss Esra aus der gewohnten Umgebung am Meer und holte sie zu sich
nach Deutschland.
In jenem Zeitraum, den der Roman umfasst, erhält Lale den
alternativen Nobelpreis für ihren Einsatz gegen
umweltzerstörerische Pläne in der Türkei,
ein - man kann es nicht leugnen - jedoch nicht uneigennütziges
Engagement. Dubiose
Grundstücksgeschäfte in der Türkei
führten vor Jahren zu einem Zerwürfnis mit den
Eltern, ihren Ferienclub "Odysseus" in Dilik verlor sie durch einen
Brand, woraufhin sie das Zwist verursachende Grundstück
verkaufte. Das Verhältnis zu ihrer Tochter Esra ist
offenkundig problematisch, geprägt von Hassliebe, und man kann
Lale durchaus als Matriarchin alten Stils bezeichnen. Auf Adam ist sie
nicht sonderlich gut zu sprechen, seit dieser Lale in einer seiner
Erzählungen wenig schmeichelhaft und für alle Welt
kenntlich "verarbeitet" hat.
Nachdem Adam und Esra eine
gescheiterte Beziehung hinter sich haben, finden die ungleichen
Liebeshungrigen zusammen, trennen sich wieder, kommen erneut zusammen,
gehen abermals auseinander, und so weiter und so fort.
Dies geschieht vor dem Hintergrund äußerst
komplizierter Familienverhältnisse, denn Frido, Esras Ex-Mann,
klebt an ihr wie eine Klette, geht weiterhin bei ihr und seiner
Ex-Schwiegermutter ein und aus und scheut auch nicht davor
zurück, seine und Esras Tochter gegen Adam aufzuhetzen, wobei
Ayla die Situation stets zu ihren Gunsten auszunützen
weiß. Freilich schweißt die Sorge um die gemeinsame
Tochter Esra und Frido zusammen, sodass Adam und Esra nur wenige
gemeinsame Ruhemomente vergönnt sind, die sie tragischerweise
zumeist nicht wirklich auszukosten verstehen.
Seit langem stehen Mauern des Schweigens zwischen den Figuren,
gegründet auf einstige Zerwürfnisse, nicht
verarbeitete Unstimmigkeiten, Unterstellungen, Verdacht auf
Misshandlungen. Und als Esra schließlich erneut schwanger
wird, ist nicht Adam der Kindesvater ...
Adam misst sein Leben zumeist an der aktuellen Ausprägung
seiner Beziehung mit Esra, und auch das Ende bleibt offen, ob die nach
einem Brief erfolgte Trennung diesmal tatsächlich von Dauer
sein wird.
Wer auf der Suche nach rasanten
Handlungsabläufen ist, wird nicht viel dergleichen finden,
denn Maxim Biller - und mit ihm sein Erzähler - schwelgt in
weitläufigen Betrachtungen von Unmöglichkeiten, in
Rückblicken auf mehr oder minder Verborgenes, in
Gefühlen und Täuschungen, die das Nebeneinander
zweier womöglich ineinander verflochtener
Schicksalsstränge mit sich bringt. Auf einfühlsame
Weise wird ein Scheitern auf Raten beschrieben. An dieser Stelle sei
ein kritischer Einschub gestattet: Hätte Maxim Biller die
Gegenwart als durchgehende Erzählzeit gewählt, man
würde ihm die Unmenge an (nur auf den ersten Blick?)
oberflächlichen Details eher wohlmeinend durchgehen lassen, so
aber wird eine mitunter künstlich wirkende Dichte
aufgeschäumt, die in dieser Form da und dort
unglaubwürdig erscheinen mag und der an und für sich
schlichten Geschichte einige unerträgliche Längen
beschert.
Wie unterhaltsam Maxim Biller
zu schreiben vermag, offenbart sich in den Episoden, die von Aylas
namenloser, tyrannischer Katze handeln, in den Dialogen zwischen Adam
und seiner Mutter (telefonisch und zu nachtschlafener Stunde
geführt), sowie in der sich anfangs unscheinbar,
später deutlicher durch den Roman ziehenden Geschichte um den
vermuteten religiösen Hintergrund von Esras Familie. Da blitzt
hellwacher Witz durch, wenn die verschlungenen Pfade der historischen
Dönme, einer geheimen Gemeinschaft, welche sich als Nachkommen
des Schabbatai Zwi nach außen als Moslems und Türken
gibt, unter sich aber weiter das Judentum praktiziert, beleuchtet
werden. Adam verrennt sich - sehr zur Freude des Lesers - zunehmend in
die Suche nach Beweisen für seine wunschtraumartigen
Spekulationen, möglicherweise um sich Esra näher zu
fühlen - er selbst ist nämlich Jude. Esras Familie
weiß das alles, und die Großeltern, die Adam mit
seiner Tochter Stella in der Türkei aufsucht, sorgen
für wahrlich erlesene Verwirrung, nicht nur hinsichtlich der
Dönme ...
Maxim Biller, Schriftsteller
und Publizist, wurde als Kind russisch-jüdischer
Eltern am 25. August 1960 in Prag geboren. 1970 emigrierte seine
Familie infolge der
Niederschlagung des Prager Frühlings nach
Deutschland.
1990 erschien sein erster Erzählungsband "Wenn ich einmal
reich und tot bin". "Esra" ist sein zweiter Roman.
Nach jahrelangem Rechtsstreit hat das deutsche Bundesverfassungsgericht
im
Oktober 2007 das Erscheinen des Romans "Esra" per
Mehrheitsbeschluss endgültig untersagt. (Anm. d.
Red.)
(K. Eckberg; 03/2003)
Maxim
Biller: "Esra"
Kiepenheuer & Witsch, 2003. 214 Seiten.
Buch
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Die Tochter"
Eine Liebe in
Deutschland - Maxim Billers erster, großer Roman
erzählt die Geschichte von Motti, dem Israeli, der alles
vergessen will, was er als junger Soldat im Libanonkrieg erlebt hat,
und von Sophie, der Touristin aus Deutschland, die ihm helfen soll, in
ihrer Heimat ein neues Leben zu beginnen. Doch zwischen Mottis Welt,
der Welt seiner Eltern
in
Tel Aviv, die dem Holocaust entkamen, und Sophies deutschem
Leben und deutscher Familie wächst eine Kälte, die
Mottis Seele zu zerreißen droht. So flieht er in eine neue,
gefährliche Liebe - die Liebe zu ihrer gemeinsamen Tochter
Nurit ...
In Maxim Billers erstem Roman wird Mottis immer verzweifeltere Suche
nach dem Glück, seine Sehnsucht nach Erlösung, als
eine ergreifende Leidensgeschichte erzählt, die in einem
einzigen Tag im hektischen München der 1990er Jahre
kulminiert. In verblüffenden Wendungen wird der Leser dabei
vom Autor durch das Lebenslabyrinth seines Helden getrieben und in ein
berückendes Spiel von Schein und Sein verwickelt. Ein moderner
Großstadtroman ist so entstanden, ein Stück
aufregender schwarzer Prosa, ein ganz eigensinniger Blick auf die
Gegenwart dieses Landes durch das Auge der Literatur. (Kiepenheuer
& Witsch)
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