Shimon Bar-Efrat: "Wie die Bibel erzählt"
Alttestamentliche Texte als literarische Kunstwerke verstehen
Obwohl
sie jedes Jahr das Buch ist, das mit die höchsten Auflagen-
und Verkaufszahlen erzielt, ist die Bibel nach wie vor ein Buch, das,
gemessen an seiner Bedeutung und Wirkungsgeschichte, unter den Lesern
der westlichen Welt ein arg vernachlässigtes Dasein fristet.
Auch wenn man in Rechung stellt, dass die Bedeutung von
Religion sich
gewandelt hat, religiöse Phänomene in anderen
Erscheinungsweisen auftreten als noch vor Jahrzehnten, mit dieser
Missachtung wird einem der bedeutendsten und schönsten Texte
der Weltliteratur extremes Unrecht getan. Sicher hängt es auch
damit zusammen, dass in Verkündigung und Unterricht der
christlichen Kirchen seit Urzeiten bis in die Gegenwart hinein wenig
Wirkungsvolles getan wurde, den Menschen den Inhalt und die Botschaft
jener jüdischen und christlichen Texte nahe zu bringen. Zu
fremd erscheinen sie dem modernen Menschen, aus einer Welt
herausgesprochen und -erzählt, die nicht die unsere ist, und
deren Weisheiten und Lebenseinsichten man deshalb für die
eigene gegenwärtige und zukünftige Existenz als nicht
relevant erachtet.
Das hier anzuzeigende Buch richtet sich nicht an einen breiten
Leserkreis, obwohl es für alle Menschen, die sich in anderen
Zusammenhängen für Literatur und Poesie
interessieren, ein wahrer Lesegenuss sein könnte. Es spricht
eher hinein in die aktuelle Diskussion in der Bibelwissenschaft, indem
es einen literarisch-wissenschaftlichen Beitrag leisten möchte
zum Verständnis der Texte der hebräischen Bibel. Da
die hebräische Bibel und ihre Verheißung die Wurzel
des christlichen Glaubens enthält, ist dieses Buch
für alle professionellen Theologen, aber auch für den
interessierten Laien, von höchstem Interesse.
Das Buch wurde erstmals 1979 in hebräischer Sprache
veröffentlicht und bis heute in zahllose Sprachen
übersetzt, sogar ins Chinesische (!). Ist es ein Zeichen
für die Rückständigkeit der deutschen
Bibelwissenschaften, dass es bis 2006 gebraucht hat, bis dieses
Standardwerk, das in aller Welt Generationen von Studenten
geprägt hat, ins Deutsche übersetzt wurde?
Shimon Bar-Efrat gelingt es, allgemeinverständlich und
begrifflich klar, Kriterien für die Beobachtung biblischer
Erzählungen zu entwickeln. Auf eine Vielzahl von
Textbeispielen wendet er seine Beobachtungen an, auf eine Weise, die
auch der Nicht-Theologe verstehen kann.
Aufmerksame Leser werden in diesem Buch eine Vielzahl von Begriffen und
Beschreibungen für Dinge finden, die sie bei der
Lektüre der biblischen Erzählungen selbst schon
bemerkt haben. Aber ihre Aufmerksamkeit wird auch auf Aspekte gelenkt
werden, die sie nie zuvor wahrgenommen haben.
Sie lassen die zum Teil lange bekannten Geschichten in einem ganz neuen
Licht strahlen.
Könnten wir nicht nur die hebräische Bibel, sondern
auch das
Neue Testament neu sehen als ein Stück welt- und
religionsgeschichtlich bedeutender Literatur, könnten wir
seine Texte rezipieren und dann auch verkündigen als
Erfahrungsberichte von Menschen, die von der Kraft Gottes gepackt und
ermächtigt wurden, könnten wir sie lesen als Texte,
die auch heute aktuell sind, vielleicht würden dann irgendwann
die wenigen Menschen in den Kirchen wieder richtig zuhören, es
würde sich herumsprechen, es würden mehr werden, und
die Botschaft würde ihre revolutionäre Liebeskraft
entfalten ...
Nur ein Traum eines alt gewordenen
Theologen?
(Winfried Stanzick; 06/2006)
Shimon
Bar-Efrat: "Wie die Bibel erzählt"
Aus dem Englischen übersetzt von Kerstin Menzel und bearbeitet
von Thomas Naumann.
Gütersloher Verlagshaus, 2006. 318 Seiten.
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