Claudia
Carda-Döring, Rosa Maria Manso Arias,
Tanja Misof, Monika Repp, Ulrike Schießle, Heike Schultz:
"Berührt"
Alltagsgeschichten von Familien mit behinderten Kindern
"Unser Wunschkind ging verloren"
Etwa jeder achte Mensch hat in irgendeiner Form Umgang mit einem
Behinderten, sei es in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis
oder beruflich.
"Betroffene" Familien haben mit gewaltigen Schwierigkeiten zu
kämpfen, die sich Außenstehenden nicht oder kaum
erschließen. Fremde auf der Straße, aber
häufig auch Bekannte und Freunde sowie entferntere
Angehörige von Behinderten tun sich schwer, die etwas "andere"
Familie "richtig" zu behandeln. Leichtfertig, manchmal auch bewusst,
verletzen sie diese und wissen meistens nicht, was sie damit anrichten.
In Frankfurt am Main haben sich sechs Mütter von behinderten
Kindern in einer Gruppe zusammengetan. Aus den Erfahrungen dieser
Gruppe heraus entstand das Buch "berührt", in dem die
Mütter aus ihrem Alltag und dem ihrer behinderten und nicht
behinderten Kinder erzählen: in Form von Geschichten oder auch
lyrischen Texten, ungeschminkt, spontan, zornig, glücklich,
abgrundtief traurig, enttäuscht, je nach der erlebten
Situation.
Zunächst stellen sich die Familien vor. Es sind ganz
gewöhnliche Familien, Paare, die sich auf und über
ihr Baby freuen, bis eine Diagnose ihre bis dahin recht heile Welt
brutal zum Einsturz bringt;
Down-Syndrom,
Perisylvisches Syndrom, Angelman-Syndrom und so weiter werden von nun
an ihr Leben bestimmen.
Manche Familie wird mit der Diagnose sitzen gelassen und muss sich
selbst mühsam Informationen zur Behandlung und zu den dem Kind
rechtlich zustehenden Hilfen und Maßnahmen zusammensuchen -
und die Letztgenannten nicht selten mühsam erkämpfen.
Andere erhalten frühzeitig kompetente Hilfe. Trotzdem tut sich
sogar der engere Familienkreis schwer mit dem besonderen Mitglied. Da
wird der behinderte Cousin nicht zum Kindergeburtstag eingeladen, oder
es fallen unbedacht (?) herzlose Sätze. Umso schwieriger
gestaltet sich der Umgang mit Außenstehenden, die sich
unsicher oder ganz einfach dumm-diskriminierend verhalten. Wobei manche
Autorin selbst eingesteht, dass es nicht immer einfach ist, das rechte
Wort, den rechten Ton zu finden. Denn natürlich stellt sich
mit der Zeit und nach einschlägigen Erfahrungen auch eine
gewisse Empfindlichkeit ein, vor allem bei den Eltern - die nicht
behinderten Geschwister wachsen in diesen Familien offensichtlich gut
in die Situation hinein, auch wenn sie oft zurückstecken
müssen.
Plätze in integrativen Kindergärten sind in Frankfurt
relativ gut zugänglich, aber auch dort ist die Integration
nicht immer ideal, wird das behinderte Kind schon einmal isoliert, wenn
es zwischendurch "schwierig" ist. Als umso brisanter erweist sich das
Thema Schule: Integration ist diesbezüglich kein Thema
für die (Landes-) Politik, Plätze sind sehr rar, und
die zuständigen Sonderschulen können auf das einzelne
Kind nicht eingehen. Selbst Privatschulen und integrative Schulen haben
jedoch manchmal eine eigenartige Philosophie und sorgen für
Enttäuschungen. Der zermürbende Kampf um
Zukunftschancen für die behinderten Kinder nimmt den Eltern
viel von der Kraft, die sie so dringend für ihre Kinder
benötigen.
Die Kinder, um die es in diesem Buch geht, haben letztlich
Plätze an geeigneten Schulen bekommen. Das verdanken sie im
Wesentlichen ihren engagierten, jedoch nur scheinbar "unkaputtbaren"
Müttern.
Die Beiträge im Buch ermöglichen es dem Leser,
Gefühle und Nöte, aber auch beglückende
Aspekte im Zusammenhang mit dem Leben
an
der Seite eines behinderten Menschen unmittelbar zu erfahren.
Vor allem erhält man eine Ahnung von den Anforderungen, den
Sorgen und dem Druck, denen Eltern behinderter Kinder täglich
ausgesetzt sind. Als mehr oder weniger Außenstehender
begreift man, was eine unbedachte, nicht einmal unbedingt
"böse" gemeinte Äußerung Eltern oder
Geschwistern gegenüber anrichten kann.
Eine Art Gebrauchsanleitung für den
Umgang
mit Behinderten und ihren Familien kann das Buch
natürlich nicht bieten, das entspricht auch nicht der
Intention der Autorinnen. Aber es weckt Verständnis und den
Wunsch, solch besonderen Familien beim Versuch zur Seite zu stehen,
eine gewisse Normalität zu leben. Und Familien mit behinderten
Kindern können daraus manche nützliche Information
beziehen und die Erfahrung machen, dass sie nicht allein sind mit ihren
Emotionen.
Die sechs kleinen Persönlichkeiten auf dem Einband blicken dem
Betrachter fröhlich oder auch aufmerksam-ernst entgegen. Im
Grunde, das vermittelt dieses Buch sehr eindrucksvoll, sind sie nichts
anderes als Kinder, nur eben auf ihre Art besonders, und genau dies ist
der Schlüssel zu einem aufgeschlossenen Miteinander, an dem es
unserer Gesellschaft noch immer mangelt.
(Regina Károlyi; 04/2006)
Claudia
Carda-Döring, Rosa Maria Manso Arias,
Tanja Misof, Monika Repp, Ulrike Schießle, Heike Schultz:
"Berührt"
Brandes & Apsel, 2006. 195 Seiten.
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