Louis de Bernières: "Traum aus Stein und Federn"
Gelesen von Ulrich Noethen
(Hörbuchbesprechung)
Genozid im Namen der Religion
Louis de Bernières, 1954 in London geboren, wuchs im Nahen Osten auf. Weltweite
Beachtung erzielte er mit seinem Roman "Corellis Mandoline", der erfolgreich
mit Nicholas Cage und Penelope Cruz verfilmt wurde.
Bernières macht seinen Lesern den Einstieg in seinen neuesten Roman nicht einfach.
In einem Interview aus dem Jahre 2004 sagte er: "Ich möchte nur ernsthafte Leser!"
Diesem Motto bleibt er treu, und so benötigt man einige Kapitel, um sich im
Rhythmus des Romans zurecht zu finden. Der Roman
hat keine Hauptperson, die der Geschichte einen festen Rahmen gibt, sondern
viele kleinere und größere Erzählstränge vereinen sich zu einem komplexen Gesamtbild.
Häufig werden die gleichen Geschehnisse von mehreren Erzählern aus unterschiedlichen
Perspektiven beschrieben. Durch die wechselnden Gesichtspunkte entsteht ein
stimmiges, homogenes Gesamtbild der Ein- und Ansichten der Dorfbewohner und
der verschiedenen Mentalitäten und Empfindlichkeiten innerhalb des multikulturellen
Dorfverbandes.
Niemals jedoch wird de Bernières unsachlich, ergreift Partei für eine Seite
oder versucht, den Hörer zu manipulieren oder zu beeinflussen. Und dies alles
gelingt ihm trotz der poetischen Schilderungen des Dorflebens, der emotionsgeladenen
und tragischen Liebesgeschichte zwischen Philothei und Ibrahim oder der in erschreckender
Deutlichkeit, die in der jüngeren anglistischen Literatur Ihresgleichen sucht,
geschilderten Schrecken des Ersten Weltkrieges.
Zwischen den Erzählschnipseln wird im sachlichen Stil einer Dokumentation der
Lebenslauf von Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer der Türkei, belichtet, und
parallel zu seiner Entwicklung haben wir Teil am Ende des Osmanischen Reiches
und der Gründung der modernen Türkei.
Ein großes Kompliment gebührt an dieser Stelle den Produzenten von Universal
Music/Deutsche Grammophon, die das Medium CD vorbildlich auszunutzen wissen:
Jeder Track der CDs entspricht, bis auf wenige Ausnahmen, exakt immer einem
der durchnummerierten Erzählthemen wie z. B. "Ich bin Philothei" oder "Mustafa
Kemal". So ist es z. B. möglich, sich alle 22
Mustafa
Kemal betreffende CD-Tracks hintereinander anzuhören oder schnell Zugriff
auf ein bestimmtes Motiv zu haben. Eine ausführliches Trackliste liegt der wunderschön
gestalteten Pappdose bei.
Sein neuester Roman beginnt mit der Geburt des Mädchens Philothei in dem fiktiven
Dorf Eskibahce im Jahre 1900 und endet mit der Vertreibung der griechischen
Christen aus der Türkei und parallel dazu der Verbannung der Moslems aus Griechenland
1923.
Philothei, die schon bei Ihrer Geburt unglaublich schön ist, wird Ibrahim, dem
Sohn des Ziegenhirten versprochen. Während der Schilderung ihrer Kindheit erfahren
wir noch etwas über für den weiteren Verlauf der Geschichte wichtige Personen.
Da sind zum Einen Ibrahims Freunde Karatavuk und Memehtcik und ihre eigene Freundin
Drousala. Auch der Dorftöpfer Iskender, der Imam Abdulhamid Hodscha und der
Bürgermeister des Dorfes Rustum Bey werden vorgestellt. Ihre Schicksale und
Erlebnisse stehen beispielhaft für die sozialen, politischen und kulturellen
Zustände und Umbrüche, die ihr Land in den geschilderten 23 Jahren durchmacht.
Aber auch der Humor kommt in "Traum aus Stein und Federn" nicht zu kurz. Die
beiden Dorfgendarmen sitzen Tag und Nacht auf dem Marktplatz und spielen Brettspiele,
wenn sie nicht gerade ein Nickerchen machen, um sich von den Mühen des Tages
zu erholen. Iskender erfindet pausenlos neue Sprichwörter, und Ibrahim imitiert
gekonnt das Blöken der Ziegen, wobei er ständig neue Namen dafür erfindet wie
z. B. "Das Blöken einer Ziege, die nichts zu sagen hat".
Dabei gelingt es de Bernières, allen seinen auftretenden Charakteren, deren
es nach eigener Angabe fast 200 sein sollen, eine immense Tiefe und Plastizität
zu verleihen. Dieser Individualisierung der einzelnen Protagonisten trägt Ulrich
Noethen gekonnt Rechnung bei seiner Lesung. Wenn er z. B. die dramatischen Ereignisse
während der Belagerungsschlacht bei "Galipolli" oder die Eroberung Smyrnas schildert,
gewinnt der ohnehin schon brillant geschriebene Text eine Dimension, der man
sich nicht mehr entziehen kann. Ulrich Noethens Stimme zittert, erbebt, schwindet
und fängt sich dann wieder, als ob er es nicht fertig brächte, die begangenen
Gräuel, die eigene Schuld, das Entsetzen im Angesicht der Tragödie des Stellungskrieges
und des Sterbens von Freunden und Kameraden zu schildern.
Eine bravouröse Glanzleistung, denn im nächsten Kapitel erzählt er uns mit ironischem
Augenzwinkern, wie Rustum Bey von einer tscherkessischen "Geliebten" verführt
wird oder wie ein muslimischer Dorfbewohner, für den Alkohol tabu ist, jeden
Abend sturzbetrunken nach Hause kommt, weil er "wegen seinen unerträglichen
Zahnschmerzen ein Schlückchen Raki" getrunken hat.
Aber de Bernières' Roman handelt auch von dem Kreislauf der Gewalt, dem bornierten
Festhalten an überkommenen und überholten religiösen Dogmen, von Blutrache und
Hass, Vergeltung und Liebe, zerbrochenen Träumen und unerfüllten Utopien. Und
das alles nur, weil die Scheichs von Ländern, wie z. B. "England, das die halbe
Welt beherrscht" oder "Franzosen, Italiener und
Griechen" Ansprüche auf ein
Land anmelden, deren Einwohner von der Existenz aller dieser Völker keine Ahnung
hatten und noch weniger verstehen, warum diese Scheichs jetzt ausgerechnet ihr
Land annektieren wollen, wo sie doch alle selber ein Land haben, um darin zu
leben.
Der historisch interessierte Hörer wird vermutlich einige bisher unbekannte
Details zur Rolle Deutschlands vor und während des
Ersten
Weltkrieges im osmanischen Reich erfahren. Aber dies ist bei Weitem nicht
alles, womit der Hörer verwöhnt wird. De Bernières webt in poetischen Worten
einen bunten Teppich aus Geschichte, religiösen Bräuchen, Sitten, Ehrenkodex,
sozialen Gefügen, militärischem Hintergrundwissen und vielem mehr. Jedes kleine
Steinchen fügt sich nahtlos an die anderen Teilchen an, ergänzt oder erweitert
diese so, das am Ende des Romans ein perfektes Mosaik entstanden ist, das, gespiegelt
am Schicksal eines ganzen Dorfes, das tragische Ende eines Reiches und die Anfänge
eines neuen Staates abbildet.
Die Ausstattung der CD entspricht leider nicht der perfekten Track-Einteilung.
Bis auf ein kleines, doppelseitiges Beilageblatt enthält die Pappdose keine
weiteren Erläuterungen zum Roman, dem geschichtlichen Hintergrund oder zum Autor
sowie Sprecher. Dies ist insofern bedauerlich, weil es ohne großen Kostenaufwand
möglich wäre, diese Informationen beizufügen - genug Platz dafür wäre auf jeden
Fall vorhanden gewesen.
(Wolfgang Haan; 11/2005)
Louis de Bernières: "Traum aus Stein und
Federn"
Universal Music, 2005. 10 CDs.
ISBN 3-8291-1511-3.
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Buchausgabe:
Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié.
S. Fischer, 2005. 672 Seiten.
ISBN 3-10-007125-5.
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Weitere Bücher des Autors
(Auswahl):
"Corellis Mandoline"
Im Mittelpunkt dieses magischen, ergreifenden Romans steht Pelagia, die schöne,
eigenwillige Tochter des Arztes auf der kleinen Insel Kephallonia im Ionischen
Meer. Sie muss sich zwischen zwei Männern entscheiden: Mandras, dem jungen Fischer,
der sich den Partisanen anschließt,
und Antonio Corelli, dem Offizier der italienischen Besatzungstruppen, der die
Frauen und die Musik mehr liebt als den militärischen Drill.
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"Der zufällige Krieg des
Don Emmanuel"
Es ist nur eine Laune, als die hochmütige Dona
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Lateinamerika mit Trinkwasser versorgt, umzuleiten, um ihr Schwimmbecken zu bewässern.
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Don Emmanuel, dem unsinnigen Verlagen. Der erste Roman von de Bernières' großer
Lateinamerikatrilogie.
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"Señor Vivo und die
Kokabriefe"
Dionissio Vivo, ein junger lateinamerikanischer
Philosophiedozent, kämpft mit Unterstützung des einzigen ehrbaren Polizisten
der Stadt gegen die mächtigen Drogenbosse. Der örtliche Kokabaron schickt
gleich mehrere Killer, um Dionisio zum Schweigen zu bringen, aber der scheint
wie unter einem Zauber hinter dem Schutzwall seines Gerechtigkeitsgefühls zu
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Schwestern Ena und Lena
treiben mit ihrem Verehrer ein verwirrendes Spiel. Doch da ruft der Kardinal
Guzman auf einmal zu einem Feldzug für den Glauben auf. Und der schon ist es um
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Der Abschlussband von de Bernières' großer Lateinamerika-Trilogie.
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