Maria von Rosen, Ingmar Bergman: "Der weiße Schmerz"
Drei Tagebücher
Ein
Leben zum Tod hin
Fast zehn Jahre nach dem Tod seiner Frau Ingrid Bergman (nicht
identisch mit der Schauspielerin gleichen Namens)
veröffentlicht der schwedische Film- und Theaterregisseur
Ingmar Bergman zusammen mit der gemeinsamen Tochter Maria von Rosen die
privaten Tagebuchaufzeichnungen, die sie während der
Krebserkrankung von Ingrid geführt haben. Eine
Veröffentlichung dieser persönlichen Notizen,
geschrieben von Menschen, die seit ihrer Kindheit ein Tagebuch
führen, war nie vorgesehen, wurde jedoch zu einem wichtigen
Teil der Trauerarbeit. Alle Texte, authentisch, unkorrigiert und
ungekürzt, sind "im Augenblick verankert", wie es Ingmar
Bergman ausdrückt. Und in diesem Fall bedeutet der Augenblick
ein Chaos an überwältigenden Gefühlen, die
nur eine Blickrichtung in die Zukunft zulassen und die um diese
undenkbare und vor allem unaussprechliche Katastrophe kreisen.
Die "Drei Tagebücher" sind jene von Ingrid Bergman, Ingmar
Bergman und Maria von Rosen, setzen ein mit dem Vortag der
Magenkrebsdiagnose von Ingrid im Oktober 1994 und enden mit ihrem Tod
sieben Monate später. Tag für Tag wird das Leben in
dieser Zeit aus drei verschiedenen Blickwinkeln festgehalten, jeder
Spur von Hoffnung nachgegangen und der verzweifelte Versuch
unternommen, mit den alles überwältigenden
Gefühlen der Angst und Verzweiflung, der Wut und der Trauer,
der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit zurande zu kommen.
Die Tagebucheintragungen beginnen mit dem 10. Oktober 1994 mit
folgenden Worten:
Ingrid: "Morgens müde."
Ingmar: "Valium. Trotzdem eine miese Nacht."
Maria: "Mildes Herbstwetter."
Am nächsten Tag bekommt Ingrid Bergman die Diagnose Magenkrebs.
Ingrid: "Krebsgeschwür im Magen! Hole Benjamin
(Enkel) ab ..."
Ingmar: "Es ist sinnlos, wenn ich mich bemühe, über
die totale Verwirrung zu schreiben, die in meinem allerinnersten
Zentrum wütet. Es ist auch sinnlos, all diese kindliche und
unbändige Trauer zu verdrängen. Sie kommt in Wellen
und ist unerträglich. Zugleich muss ich mich Ingrids wegen
zusammennehmen. Wir müssen eine Art von funktionierendem
Alltag konstruieren."
Maria: "Sie war gefasst, ich war gefasst. Dachte, sie sollte mich nicht
trösten müssen."
Auf die Schreckensnachricht haben die handelnden Personen
unterschiedlich reagiert. Wie und auf welche Weise, davon handelt das
Buch. Die Mutter-Vater-Kind- und Ehefrau-Ehemann-Konstellation steckt
den Rahmen ab: Ingrid Bergman, die tüchtige, starke
Familienmanagerin, die versucht, ihre Krankheit zu ignorieren und
einfach weiterzumachen so gut es geht. Ingmar Bergman, der sich
zuweilen hilflos seinen Emotionen und dem Grauen ausgesetzt
fühlt, die Wahrheit erahnt und so sichtbar
unglücklich und verzweifelt ist, dass alle versuchen ihn zu
schützen. Schließlich Maria von Rosen, die Tochter,
die zu einer wichtigen Hilfe wird und Angst hat, ihren Vater auch noch
stützen zu müssen. "Ich schaffe es nicht,
beide zu stützen", notiert sie ihrem Tagebuch.
Das sind die Personen in einem Drama, das sich Tag für Tag vom
Leben weg und zum tödlichen Ausgang hin entwickelt. Alle
Beteiligten wissen es. Auch wenn sie zwischendurch so tun, als ob das
Ende noch umgeschrieben werden könnte. Je länger
jedoch dieser Weg zum Ende hin dauert, je mehr Tage an weitere Tage
sich reihen, umso weniger fürchten sie das Ende, den Tod. Fast
erscheint er als eine Rettung, eine Gnade, eine Wohltat. Denn als
schlimmer als der Tod erscheint der Weg dazwischen, ein Weg des
hoffnungslosen Verfalls, der Zerstörung, des unendlichen
Leids. Ingmar Bergman nennt es an einer Stelle in seinem Tagebuch den "weißen
Schmerz", die Nähe des Todes, deutlich und
unentrinnbar.
Trotzdem muss das Leben, wie es ist, muss der Augenblick, das Jetzt,
gelebt werden. Für die beiden Bergmans heißt das in
erster Linie: Aufrechterhalten des Alltags. Mit Fortschreiten der
Krankheit wird das Bemühen immer verzweifelter. So lange und
so gut sie kann, füllt Ingrid ihre Rolle als Familienmanagerin
aus, nützt die wenigen schmerzfreien Momente, um
Steuererklärungen zu machen, Rechnungen zu zahlen und ihren "armen
Ingmar" zu bemuttern, der einmal mit Hexenschuss, einmal mit
Magenschmerzen und Grippe kämpft. Die Tochter, schon ein Kind
der emanzipierten Zeit, meint, die Mutter müsse gerade jetzt
auch an sich denken, doch die antwortet ihr, dass sie gar nicht an sich
denken will. Der Alltag mit seinen erprobten Ritualen und
Rollenbesetzungen scheint für Ingrid und Ingmar Bergman die
beste und verlässlichste Stütze zu sein. Auch wenn er
zunehmend gespenstisch wird. Seiner Tochter erklärt er: "Wir
dürfen nicht alle Hoffnung aufgeben. Das hier ist ein Training
für uns Gefühlsmimosen, jeden Tag eine strikte, harte
Routine, sonst geht es zum Teufel mit solchen wie uns." Denn
wenn man die Gedanken mit Alltäglichkeiten füllen
kann, werden vielleicht die Sorgen um Krankheit und Tod verscheucht.
Anfänglich gelingt es noch häufig, die
ständig präsenten Abgrundversuche zu ignorieren und
die ganze Wahrheit nicht bis zu Ende zu denken. Immer wieder
wünscht sich Ingmar Bergman nicht mehr als ein paar Stunden
ruhiger Alltäglichkeit. Es erweist sich als Segen, wenn "nichts
geschieht". Und er notiert: Ich fange an zu lernen,
im Jetzt zu existieren.
Von den großen Fragen wird nicht gesprochen. Nicht
vom Tod,
aber auch nicht vom
Leben, vom Sinn des Lebens im allgemeinen oder des
eigenen. Psychologen und Sterbeforscher können uns vielleicht
sagen, ob das nicht die "normale" Reaktion ist, anders als uns
Literatur und andere Berichte suggerieren, wonach am Todesbett noch
Geheimnisse aufgeklärt und Vermächtnisse
ausgesprochen werden. "Wir sprachen nicht über das,
was uns erwartet" notiert Bergman nach einem Spitalsbesuch.
Nur ganz selten ergibt sich ein kleines Gespräch über
den Tod und die schweren Dinge, wie sie genannt werden. Aber zumeist
versuchen die Bergmans alle dunklen Gedanken und die dunkle,
erstickende Zukunftsperspektive zu bannen, um auf diese Weise einen Tag
nach dem anderen leben und überleben zu können. Aber
je näher der Abgrund kommt, desto schmerzlicher auch bei Vater
und Tochter die Einsicht, dass nicht über die Dinge geredet
wird, über die geredet werden sollte.
Ingrid Bergman erweist sich auch in der
Krankheit
als die
tüchtige und praktische Frau, die eine große Familie
und einen berühmten Ehemann managt. Sie notiert kurz ihren
physischen Zustand, den Schlaf, Besuche, Telefonate. Besonders
schmerzhafte Momente werden kurz mit "scheußlich"
bezeichnet, aber sonst bleibt ihr Gefühlsleben verschlossen.
Nur manchmal tauchen Sätze auf wie: "Ein bisschen
müde von allen Emotionen."
Maria, die Tochter, spürt, dass ihr eine große
Verantwortung aufgebürdet wird und ärgert sich, dass
sie immer wieder, vor allem vor ihrem Vater, in die Kind-Rolle
verfällt. Sie hadert mit sich, dass es ihr so schwer
fällt, die richtigen Worte zu finden. Und sie sieht ihre
Eltern in einem neuen Licht: "Mama und Ingmar
schützen sich weiterhin auf eine merkwürdige Art vor
sich selbst." Und sie fragt sich, was ihre Mutter wirklich
denkt.
Für Ingmar Bergman ist der Versuch, einen Alltag auch in der
neuen Wirklichkeit zu praktizieren, ein Korsett für den
inneren Tumult seiner Gefühle. Er geht täglich seiner
Arbeit als Theaterregisseur nach, sucht Trost in der Musik und in
Gesprächen mit Freunden. Aber wie kein anderer durchschaut er
seine eigenen Mittel und Wege Trost zu finden, wo es keinen Trost gibt,
in einer Zeit, die ihm wie eine Belagerung oder eine Art Kriegszustand
vorkommt.
In diesem halben Jahr erlebt diese Familie einen Sturm von
Gefühlen, der sie gelegentlich an den Rand des Abgrunds
drängt. In der Nähe des weißen Todes sind
Trauer, Wut und Verzweiflung dunkel und verzehrend. Aber gleichzeitig
ist eine große Stärke zu spüren in dem
Versuch, einander zu verstehen, zu helfen und füreinander da
zu sein.
Ingrid Bergman, Ingmar Bergman und Maria von Rosen gewähren
uns einen Einblick in den rauen Abdruck einer nackten Wahrheit, die
sich ohne religiöse oder philosophische Sinngebung und ohne
literarische Einbettung präsentiert. In seinem Vorwort
schreibt Ingmar Bergman, dass es sich bei diesem Buch nicht um ein
Buch, nicht um Literatur, sondern um ein Dokument und Zeugnis
handelt. Um eines, und das fügt er nicht mehr hinzu, das jeden
von uns betrifft und deshalb jeder und jede gelesen haben sollte.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 02/2007)
Maria
von Rosen, Ingmar Bergman: "Der weiße Schmerz. Drei
Tagebücher"
Übersetzt aus dem Schwedischen von Verena Reichel.
Nachwort von
Henning
Mankell.
Carl Hanser Verlag, 2007. 259 Seiten.
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