Ruth Berger: "Gretchen"
Ein Frankfurter Kriminalfall
Die
bittere Geschichte der Kindsmörderin Susanna Brand: Goethes
Vorbild für Fausts Gretchen
Jeder Oberstufenschüler wird im Fach Deutsch mit dem "Faust"
konfrontiert, viele wissen indes nicht, dass die Figur Gretchen ein
lebendes Vorbild hatte: Susanna Margaretha Brand, eine Frankfurter
Dienstmagd. Goethe als prominenter Frankfurter Bürger wusste
über ihren Prozess Bescheid und war Zeuge ihrer
öffentlichen Hinrichtung.
Ruth Bergers Roman beginnt mit der Anzeige, die eine der Schwestern der
jungen Frau erstattet. Susann, wie diese allgemein genannt wird, soll
ihr neu geborenes uneheliches Kind getötet haben und aus der
Stadt geflohen sein.
Anschließend setzt sich der Roman zweisträngig fort.
Ein Strang schildert, wie Susann, eine zwar selbstbewusste und
für damalige Verhältnisse vorlaute, jedoch auch sehr
tüchtige Bedienstete in einem Frankfurter Gasthof, in ihre
prekäre Lage gerät: Wie jedes arme Mädchen
träumt sie von einer reichen Heirat, am besten von Liebe
begleitet, sie
verguckt sich in einen durchreisenden
holländischen Kaufmann, lässt sich ein Mal von ihm
verführen, er reist ab - und ihre Regel bleibt aus. Lange
verleugnet sie die Schwangerschaft vor sich selbst, ihren dominanten
Schwestern, die vor allem um ihren eigenen Ruf fürchten, und
ihrer Dienstherrin. Und auch diese sind durchaus willens, sich um der
Bequemlichkeit willen täuschen zu lassen. Fest steht nur, dass
niemand Susann aufnehmen wird, wenn sie niederkommt. Als Susann die
Wehen überfallen, bleibt ihr, realistisch gesehen, lediglich
die Wahl zwischen Selbstmord und Mord.
Den anderen Strang bilden die juristischen Folgen der Anzeige,
zunächst nur eine Art Vorgeplänkel, denn gelegen
kommt so ein Kindsmord nicht. Als die mittellose Susann arglos
zurückkehrt und schon am Stadttor festgenommen wird, laufen
die Handlungsstränge zusammen. Susann wird der Prozess
gemacht: scheinbar human, wie es sich für eine
aufgeklärte Stadt gehört, ohne Folter, und doch hat
die Delinquentin von Anfang an nicht den Hauch einer Chance.
Die Autorin orientiert sich eng an den erhaltenen Akten des Prozesses
gegen Susanna Margaretha Brand. Diese muss, vor allem im Angesicht des
Todes, als Goethe sie sah, trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre
eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen sein. Ruth Berger
verleiht ihr ein Gesicht, lässt das arme
Dienstmädchen wieder lebendig werden, das, von romantischen
Sehnsüchten zu einem "Fehltritt" verleitet, in eine wahrhaftig
aussichtslose Lage gerät - nicht anders als so viele junge
Frauen zuvor
und danach. Objektiv ist das Buch nicht, aber, anders als
beim Sachbuch, gehört Objektivität nicht zu den an
einen Roman gestellten Anforderungen. Susann ist kein Engel, auch nicht
in diesem Romanporträt, jedoch sehr menschlich, ein
liebenswertes Geschöpf und vor allem ein Opfer: Opfer ihrer
eigenen sentimentalen Träumereien, des
oberflächlichen Verführers, ihres selbstbezogenen
Umfeldes und schließlich der Rechtsprechung, die vor allem
selbstgerecht daherkommt.
Susanns Schwestern, die das Mädchen in der entsetzlichen
Notlage allein lassen, als sie diese schließlich nach einer
langen Phase des Augenverschließens wahrhaben, ebenso ihre
Wirtin, nicht minder aber die höhnischen, moralisierenden
Angehörigen der Frankfurter
Oberschicht - einige Namen sind dem Frankfurter heute noch wohl
vertraut - kommen in diesem Roman erwartungsgemäß
nicht gut weg. Auch Goethe wird in der Nachrede abgestraft, und das
nicht zu Unrecht: Nachdem er Susann als Gretchen im "Faust" ein Denkmal
gesetzt hatte, plädierte er gegen den Willen des Landesherrn
in Weimar angesichts eines vergleichbaren Falls für
die
Todesstrafe, die denn auch vollstreckt wurde. Die Nachrede,
in der das
weitere Schicksal einiger Protagonisten beleuchtet wird, ist
ausgesprochen zynisch geraten. Zwangsläufig? Aus moderner
Sicht ganz bestimmt.
Geschickt baut die Autorin eine Oberschicht-Parallele zu Susanns
Geschichte in den Roman ein, indem sie den Lebensweg von Goethes
Schwester Cornelia nachzeichnet. Cornelia lässt sich zwar
keinen "Fehltritt" zuschulden kommen, träumt aber von einer
Liebesheirat - und wird so bitterlich enttäuscht, dass sie
letztlich an den psychosomatischen Folgen zugrunde geht.
Nicht zuletzt wirkt der Roman deshalb so bestürzend
realistisch, weil Ruth Berger das historische Frankfurt und seine
Einwohner derart authentisch zu schildern vermag, dass der Leser sich
in das späte 18. Jahrhundert zurückversetzt
fühlt und die Stadt mit den Augen der jungen Frau sieht, ihre
Verzweiflung und Panik geradezu miterlebt und ihre Todesangst ahnt.
Vermutlich intensiver als bei der Lektüre des "Faust", auch
wenn es vielleicht nicht opportun sein mag, das zuzugeben.
(Regina Károlyi; 09/2007)
Ruth
Berger: "Gretchen. Ein Frankfurter Kriminalfall"
Kindler, 2007. 461 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen
Ruth Berger lebt und arbeitet als Historikerin in Frankfurt.