Ronan Bennett: "Zugzwang"


Mord, Intrigen und ein spektakuläres Schachturnier im vorrevolutionären St. Petersburg

Verschiedene Gruppen sind im Jahr 1914 engagiert dabei, das Zarenregime zu stürzen, aber keine der Personen, die in diesem sehr genau recherchierten Kriminalroman mit historisch-politischem Hintergrund auftreten, ist wirklich die, die sie zu sein vorgibt. Einzig der Protagonist der Erzählung, der Psychoanalytiker Dr. Otto Spethmann, ist nicht in die zahllosen politischen Intrigen verwickelt. Zunächst jedenfalls. Denn es stellt sich heraus, dass einige seiner Patienten in den vorrevolutionären Auseinandersetzungen in St. Petersburg herausragende Rollen spielen bzw. man sie ihnen zugedacht hat, ohne sie groß zu fragen.

Und so gerät der Psychoanalytiker Dr. Otto Spethmann mitten hinein in ein politisches Komplott, in dem er sich aber mutig und selbstbewusst bewegt. Die glanzvolle und gleichzeitig völlig verkommene Stadt St. Petersburg richtet ein wichtiges Schachturnier aus, bei dem alles , was damals Rang und Namen hatte, mitspielen soll. Dem Sieger winkt neben einem stattlichen Preisgeld die Chance, den amtierenden Weltmeister herauszufordern. Einer der Spieler, er wird als haushoher Favorit gehandelt, wird etwa zwei Wochen vor Beginn des Turniers Spethmanns Patient, auf dringende Bitten eines Freundes. Der Schachspieler, komplett niedergeschlagen und depressiv, soll von Spethmann wieder fit gemacht werden. Er ahnt zu dieser Stunde noch nicht, welche Rolle der berühmte Schachspieler in einem perfide ausgedachten Komplott spielen soll, mit dem die Revolutionäre einer bolschewistischen Gruppe das Zarenregime durch ein Attentat beenden und die neue Zeit herbeiführen wollen. Ob und wie diese Attentäter im Kontakt mit Lenin stehen, bleibt unklar, auf jeden Fall beziehen sie sich dauernd auf ihn und die Direktiven der "Partei".

Das in diesem ebenso spannenden wie außergewöhnlichen Buch beschriebene Schachturnier hat anno 1914 tatsächlich stattgefunden; es war ein Turnier, bei dem erstmals Großmeister im Schach ermittelt wurden. Ronan Bennett lässt, so wie es damals tatsächlich war, viele Personen auftreten, die ihren sozialen Ursprung im polnischen Judentum haben. Auch Dr. Spethmann hat jüdisch-polnische Wurzeln, verleugnet sie aber eher, als dass er sie bewusst lebt. Bennett spinnt nun ein Netz aus zahllosen Intrigen, bei dem in den Vorstellungen der Drahtzieher alle Mitspieler nur Marionetten zur Erreichung des erstrebten Ziels sind: der Ermordung des Zaren und dem Einläuten einer bolschewistischen Revolution. Verschiedene Anhänger der sich untereinander bekämpfenden Gruppen suchen im Zeitraum der Handlung bei Dr. Spethmann Rat und versuchen dessen Wissen über den jeweiligen Gegner auszuspionieren. Spethmann gerät immer mehr in Konflikt mit seinen analytischen Regeln, indem er zu Aussagen über den jeweiligen politischen Gegner gedrängt und schlussendlich sogar gezwungen wird. Die ganze Zeit über wird von Spethmanns Beziehung zu seiner Tochter berichtet, die sich merklich abgekühlt hat. Ob auch die Tochter an der Verschwörung beteiligt ist? Die Schilderung dieser Beziehung liest sich gleichsam als Parallelroman im Roman und ist von einer bemerkenswerten Tiefe.

Morde, Verfolgungen und eine ganze Menge konspirativer Treffen führen den gebannten Leser mehrmals in die Irre. Man weiß lange Zeit nicht, wer auf welcher Seite steht. Der passionierte Schachspieler Spethmann gerät, wie noch einige Andere in dieser atemlosen Geschichte, in Zugzwang.

Eine Geschichte, ein Kriminalroman der ganz besonderen Art, vom Autor ausgestaltet mit viel Fantasie und einem schier unbegrenzten Einfallsreichtum. Ständige Szenenwechsel, offene und versteckte Anspielungen auf die noch in ihren Kinderschuhen steckende Psychoanalyse und das Schachspiel als eine Parabel auf das Leben machen "Zugzwang" zu einem besonderen Lesevergnügen, das nicht nur jenen Menschen zuteil wird, die selbst Schach spielen und sich an den Abbildungen der gespielten Partien erfreuen können, sondern auch jenen Schachlaien, die die Anspielungen verstehen.

(Winfried Stanzick; 11/2007)


Ronan Bennett: "Zugzwang"
(Originaltitel "Zugzwang")
Übersetzt von Stefanie Röder.
Bloomsbury Berlin, 2007. 352 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Ronan Bennett, am 14. Jänner 1956 geboren, wuchs in Belfast auf. Er hat bisher fünf Romane veröffentlicht. "Zugzwang" erschien im Jahr 2006 als Fortsetzungsroman in "The Observer".