Samira Bellil: "Durch die Hölle der Gewalt"

"Niemand greift ein, niemand macht auch nur einen Mucks. Ich werde gerade in der S-Bahn grün und blau geschlagen, und niemand rührt einen Finger! Ich flehe die Leute an, die Notbremse zu ziehen. Keiner tut's."


Es gibt Geschichten von der Befreiung. Und es gibt Geschichten, die befreien. Zwei Kategorien, die völlig unterschiedliche Beweggründe haben. Im Falle von Samira Bellil treffen beide Konstellationen zu. Zum Einen schrieb sie die Geschichte, weil sie dadurch ihre langsame Befreiung von der Vergangenheit dokumentieren will. Es ist eine Befreiung, die nie zur Gänze gelingen wird. Physische und psychische Zerstörung kann nie ausgemerzt werden. Deswegen kommt die objektive Warte hinzu. Durch die Beschreibung der fortgeschrittenen Befreiung macht die Autorin deutlich, dass sich jede betroffene Frau, die ähnliche Grausamkeiten über sich ergehen lassen musste, ein Stück weit befreien kann, wenn sie ihre geschundene Seele - auf welche Art auch immer - freizugeben sucht. 

Samira Bellil vertraute als junges Mädchen einem Gigolo. Sie war ihm hoffnungslos ergeben. Gerade mal 14 Jahre alt, lässt sie sich von dem sechs Jahre älteren Jaid Tag für Tag seelisch und körperlich verprügeln, ohne es selbst zu bemerken. Sie glaubt, diesen jungen Mann zu lieben, der nie Anstalten macht, irgendein Gefühl für sie zu haben. Er fickt sie nur, wann es ihm passt. Es ist eine gefühllose Angelegenheit, die sie immer wieder erlebt. Sie hofft, dass einmal die große Liebe seinerseits da sein wird. Diese Hoffnung ist freilich vergeblich. Nach vielen schmerzhaften Monaten, die sie sich dem "Mann ihres Herzens" hingegeben hat, passiert das Unfassbare. Sie wird auf offener Straße von einer Horde Burschen angegriffen. Schon glaubt sie, ihre letzte Stunde sei gekommen, als sie die Stimme von K. vernimmt. Ein bekannter Schläger, der nunmehr ihre Verteidigung übernehmen mag. Sie dankt Gott dafür, dass K. sie gerettet hat. Nur kurz später wird die Sache noch grausamer, als sie vermutet hatte. K. schlägt sie auf offener Straße grün und blau. Wie einen räudigen Hund behandelt er sie. Schließlich gelangen sie in eine Wohnung, wo er sie brutal vergewaltigt. Nur kurze Zeit später missbrauchen sie zwei weitere Burschen. Sie ist so sehr gedemütigt worden, dass aus der bekannten Welt eine unbekannte geworden ist. Es gibt keine Realität mehr wie noch vor wenigen Stunden. Sie geht im Morgengrauen zu einer Freundin und erzählt ihr die Geschichte. K. wird später für mehrere Delikte acht Jahre inhaftiert werden. Die Komplizen kommen mit drei Jahren davon. Ihre innere Zerstörung kann niemand abbezahlen. Bei dem Prozess wurde ihr Name nie erwähnt, und sie erhält auch kein Schmerzensgeld. Erst Jahre später wird sie erfahren, dass gemeinschaftliche Vergewaltigungen in der banlieu von Paris fast zum Alltag gehören. Die Vergewaltiger empfinden ihre Taten nicht als Verbrechen. Es ist für sie selbstverständlich, sich zu bedienen. Die jungen Frauen werden zu Objekten degradiert, die nur dem Ziel der sexuellen Befriedigung dienen.

Samira wurde von ihrer Familie verstoßen. Es ist eine Schande, dass sie Opfer einer mehrfachen Vergewaltigung ist. Nur wenige Monate nach der grausamen Vergewaltigung passiert ihr dasselbe ein zweites Mal, und drei Jahre später noch ein drittes Mal.

Nie aber gibt sie auf. Sie spürt Hoffnung aufkeimen, als sie einen jungen Mann kennen lernt, der sie zu lieben vorgibt. Nach unzähligen Affären endlich der Mensch, bei dem sie sich sicher sein kann, dass sie nicht nur ein Stück Fleisch für ihn ist. Er ist liebenswürdig und macht ihr Geschenke. Später lernt sie einen weiteren jungen Mann kennen, der ebenso hervorstechende Prädikate haben mag. Doch irgendwann stellt sich in beiden Fällen heraus, dass mehr Schein als Sein im Spiel war. Sie wurde hintergangen, sie wurde belogen und betrogen. 

Eine Zeit lang lebt sie auf der Straße und fühlt sich wie jedermanns Hure. Sie schläft einmal mit einem Jungen für einen sauberen Schlafplatz und ein wenig Essen. Manchmal ekelt sie sich vor sich selbst. Sie träumt gerne von ihren Pflegeeltern, bei denen sie so viele wundervolle Jahre verbracht hat. Nur wenige Wochen, nachdem sie zum ersten Mal vergewaltigt worden war, hat sie ihre Pflegeeltern in Belgien vier Wochen lang besucht. Diese Menschen verstehen sie, gehen auf sie ein, fühlen sich mit ihr verbunden. Alles wäre anders gelaufen, wenn sie für immer in Belgien geblieben wäre. Ihr Vater war fünf Jahre im Gefängnis gesessen, und ihre Mutter konnte sich nicht dazu aufraffen, sich um ihr Kind zu kümmern, wo sie um ihren geliebten Mann trauerte. Also war sie bis zu ihrem fünften Lebensjahr bei dieser wunderbaren Pflegefamilie untergebracht. Das Schicksal schlug dann in Paris gnadenlos zu, und sie kann ihre Eltern nie verstehen, für die sie eine Schande ist.

Viele Jahre später macht sie nach mehreren kleinen Jobs eine Ausbildung zur Animateurin. Es macht ihr Spaß, mit Kindern zu arbeiten. Dabei kann sie auch ihre künstlerische Ader ausleben. Sie zeichnet und malt, führt Regie beim Kindertheater, ist für die Kostüme zuständig. Es ist eine Ausbildung, die sie auch nach Griechenland führt. Immer wieder bekommt sie epileptische Anfälle. Ihr Körper reagiert schon seit Jahren auf die schrecklichen Qualen, die ihr zugefügt worden sind, und fast noch frische Narben hinterlassen haben. Unter diesen Umständen ist es schwer, zu arbeiten. Aber sie versucht, durchzuhalten. Als sie ihre Ausbildung positiv abschließt, ist sie wie neugeboren. Endlich hat sie etwas geschafft! Es ist nichts Besonderes, aber immerhin! Nun hat sie einen Beruf, in den sie sich hineinstürzen will. Aber es ist und bleibt schwer, mit den epileptischen und teilweise hysterischen Anfällen zu leben und zu arbeiten. Griechenland hatte ihr auch eine mehrtägige Untersuchungshaft eingebracht, weil in ihrem Hotelzimmer leichte Drogen gefunden worden waren. Immer wieder hatte sie sich eingeraucht, um die Strapazen ihres zerrütteten Lebens kurzzeitig vergessen zu machen. Die Gespenster holten sie immer wieder ein, bis sie beschloss, eine ihr angebotene Therapie anzunehmen. Es war anfangs sehr hart, der Therapeutin von ihrem Leben zu erzählen. Lange Zeit verschwieg sie gerade die wichtigsten Ereignisse ihres Lebens. Aber irgendwann muss es raus. Es ist grausam, aber gleichzeitig die Befreiung, von der schon mal die Rede war. Eine Befreiung, die es ermöglichte, dass sie den vorliegenden Roman schrieb. Dank einer lieben Freundin, Josee Stoquart, die auch das Vorwort zur Geschichte von Samira schrieb, wurden ihre Worte in ein allgemeingültiges Konzept gebracht. Samira hat sich ihre Wunden nicht von der Seele schreiben, aber zumindest aus der stickigen Atmosphäre ihrer selbstzerstörerischen Handlungen und Gedanken Befreiung erlangen können. Und sie macht mit ihrer Geschichte anderen Frauen Mut, sich ebenso ihren Geschichten zu stellen. Viele der Opfer von gemeinschaftlichen Vergewaltigungen enden in der Drogenszene bzw. im horizontalen Gewerbe. Es ist ein Kreislauf, der sie immer mehr in die Vernichtung treibt. Samira ist eine der wenigen Frauen, denen es gelang, den zerbrochenen Spiegel gegen einen neuen einzutauschen und von vorne anzufangen.

Der Roman ist trotz all der schrecklichen Dinge, die in ihm enthalten sind, mit viel Humor erzählt. Samira Bellil bewies mit dem Niederschreiben ihrer Geschichte sehr viel Mut, und es ist zu hoffen, dass viele andere betroffene junge Frauen ihn lesen und damit neuen Auftrieb bekommen, ihr Leben zu meistern. Samira engagiert sich intensiv gegen den sexuellen Missbrauch von Mädchen und Frauen. Ihr Roman ist in Frankreich wie eine Bombe eingeschlagen. Er ist sicher keine leichte Kost, aber durch die charmante Schreibart von Samira jedenfalls eine Chance für den Leser, ganz nahe in die grausamen Verhältnisse der Vororte von Paris einzudringen. Besonders grausam erscheint die fehlende Zivilcourage der Menschen, die mit ansehen, wie Samira geschlagen und gedemütigt wird, und überhaupt nichts dagegen unternehmen. Sollten wir je in eine solche Situation kommen, muss es selbstverständlich sein, einer jungen Frau zu helfen, deren Zukunft dann auch in unseren Händen liegt, die wir das Schreckliche verhindern können. Einen persönlichen Erfolg hat Samira Jahre nach den Vergewaltigungen erzielt: In einem neu aufgerollten Prozess wurde ihr Schmerzensgeld zugestanden, und ihr Anwalt verrechnete keine Kosten. 

Samira Bellil wurde 1973 in Algier geboren und wuchs als Tochter algerischer Einwanderer in einem Vorort von Paris auf. Sie lebte in Saint-Denis bei Paris und arbeitete als sozialpädagogische Betreuerin für Kinder und Jugendliche. Samira Bellil, prominente Aktivistin für die Rechte muslimischer Frauen in Frankreich, ist am 8. September 2004 im Alter von 31 Jahren an einem Magenkrebsleiden gestorben.

(Jürgen Heimlich; 08/2003)


Samira Bellil: "Durch die Hölle der Gewalt"
Pendo, 2003. 320 Seiten.
ISBN 3-85842-560-5.
ca. EUR 19,90.
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