Reinhart Koselleck: "Begriffsgeschichten"
Über Begriffe Geschichte begreifen
Am 3. Februar 2006 verstarb Reinhart Koselleck mit fast 83 Jahren. Wer
sich für Geschichte oder Geschichtsphilosophie interessierte,
für den war der Name Reinhart Koselleck ein Begriff, denn
dieser wurde 1954 mit der heute noch recht bekannten Untersuchung
"Kritik und Krise" promoviert. Darin untersuchte er die Geschichte der
europäischen Aufklärung und spiegelte diese Epoche an
bedeutenden politischen und historischen Theoretikern von Hobbes bis
Schiller.
Diese Arbeit brachte ihn auf sein großes
theoretisches Thema: die Geschichte der politisch und gesellschaftlich
relevanten Begriffe. Die Begriffsgeschichte ist im Schwerpunkt eine
terminologische Geschichte der politischen Adoleszenz, die in
spätmittelalterlicher Unmündigkeit begann und in der
Demokratie der modernen Republiken endet; die sprachlichen Wurzeln
gehen natürlich oft zurück auf die politischen
Theoretiker der Antike, allen voran Aristoteles. Zur Einordnung ein
Zitat aus dem Vorwort: "Die Begriffe und deren sprachliche Geschichte
zu untersuchen gehört so sehr zur Minimalbedingung, um
Geschichte zu erkennen, wie deren Definition, es mit menschlicher
Gesellschaft zu tun zu haben." Damit bringt er die Begriffsgeschichte
in die Nähe der Sozialgeschichte, mit der sie zeitgleich seit
der Aufklärung existiert.
Worte, Begriffe haben neben einer dem Ereignis unmittelbar zugeordneten
Bedeutung auch einen dynamischen Bezug zu ihrem dem Grunde nach
statischen Bezugsereignis. Oft gehen Begriffe einem Ereignis aber auch
voraus, kündigen es an, lassen es erahnen. Zum Zeitpunkt des
Ereignisses haben Worte die größte Nähe zu
diesem Ereignis. Rückblickend aber bleiben sie oft als
einziges Wahrnehmungsmedium übrig, doch stets bleibt die
Diskrepanz zwischen dem Geschehen und dessen sprachlicher Abbildung.
Somit ist Geschichtsschreibung letztlich auch eine Frage der
Perspektive. Begriffe antizipieren gelegentlich aber auch Geschichte,
wie am Beispiel des Begriffs "citoyen" gezeigt werden kann.
Diderot
nahm "citoyen" in die Enzyklopädie auf und grenzte es gegen
"bourgeois" ab, doch erst mit der
Französischen Revolution
wurde dieser Begriff bis hin zu "citoyen Capet" mit Leben
gefüllt - und später auch mit dem Gegenteil.
Die politische Emanzipation in Westeuropa wird meist auf die
Entwicklung in England Ende des späten 17. Jahrhunderts
reduziert, in Frankreich während des 18. Jahrhunderts und in
Deutschland Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts - drei Regionen, drei
Geschichten, entlang ihrer jeweiligen nationalen Entwicklungen. Auch
gegenständliches Buch ruht auf diesen drei Säulen.
Auf diese territoriale Beschränkung wird noch einzugehen sein.
Sehr deutlich wird in diesem Werk der Übergang vom Plural zum
Singular - genauer dem Kollektivsingular -, in dem viele Begriffe
endeten. Die Entwicklung des Wortes Geschichte aus Geschichten mag als
Beispiel dienen. Der Kollektivsingular ist das Ergebnis eines langen
Prozesses, einer Verdichtung und einer Abstrahierung der einst
plurivalenten Ereignisse. Aber auch die Begriffe Fortschritt und
Aufklärung entwickelten sich auf diese Weise, oder Bildung und
Staat, letzterer übrigens aus Status.
Interessant ist auch die Verschiedenartigkeit eines
Bürgerbegriffes, der sich in den drei Sprach- und
Geschichtsräumen verschieden bildete und als klarer Terminus
im Deutschen nicht anzutreffen war, ganz im Gegensatz zu dem
französischen "citoyen".
Und so spannt der Autor viele dünne Begriffsfäden von
der Antike bis heute und lässt daran den feinen
etymologischen, historischen und philosophischen Nebel der Geschichte
kondensieren.
Fazit:
Eine vergleichende Betrachtung der Epoche der Aufklärung in
England, Frankreich und Deutschland trifft man in historischen
Untersuchungen öfter an, es sei zum Beispiel an Tim Blannings
herausragende Untersuchung "Das
Alte Europa 1660-1789" erinnert. Doch man fragt sich
irgendwann unweigerlich: Wie verlief denn dieser Prozess in den
Niederlanden? Es sei nur an die großen Umwälzungen
in Holland zur Zeit Spinozas erinnert. Wie in Österreich, in
Italien oder Russland?
So findet der Rezensent den Titel Begriffsgeschichten
gleich in zweierlei Hinsicht gerechtfertigt, denn dem Buch fehlt als
Aufsatzsammlung mit den üblichen thematischen
Überschneidungen der übergreifende Entwurf und somit
der Anspruch einer geschlossenen begrifflichen Universalgeschichte. Der
zweite Grund liegt in der Beschränkung auf die Regionen
England, Frankreich und Deutschland. Eine Begriffsgeschichte
als Kollektivsingular steht also noch aus. Doch diese
Einschränkung soll den Wert des überaus interessanten
Buches nicht schmälern.
(Klaus Prinz)
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Noch ein Buchtipp:
Franco Moretti: "Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne"
Die industrielle Revolution hat keinen Stein auf dem anderen gelassen. Sie
hat alle "altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen" aufgelöst, alles
"Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige" entweiht, konstatieren
Marx
und Engels im "Kommunistischen Manifest". Die Protagonisten dieser Umwälzung
sind die Bürger, die Kaufleute und Industriekapitäne. Die Figur des Bourgeois
hat nicht nur
Max Weber, Werner Sombart und Joseph Schumpeter fasziniert, sie
spielt auch eine Hauptrolle in den großen Werken der Weltliteratur: bei Defoe
und Goethe,
Balzac und
Dickens, bei
Thomas Mann und Henrik Ibsen.
Franco Moretti rekonstruiert die Mentalität dieser Ära durch das Fenster
Literatur: Warum hört
Robinson Crusoe auch dann nicht auf zu arbeiten, als sein
Überleben auf der paradiesischen Insel längst gesichert ist? Was verraten Ton,
Schlüsselwörter und Grammatik der großen Romane des 19. Jahrhunderts über den
Geist des Kapitalismus? Und was haben uns die Stücke Ibsens heute, das heißt in
unseren postbürgerlichen Zeiten, noch zu sagen, in denen die Wachstumsideologie
ebenso hinterfragt wird wie die Integrität von Bankleuten, Beratern und
Analysten? (Suhrkamp)
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