Zdenka Becker: "Die Töchter der Róza Bukovská"
Dies
ist ein Buch über die Suche nach Heimat, ein Buch
darüber, wie Menschen ihr Leben lang versuchen, irgendwo
anzukommen, Wurzeln zu schlagen und ihrem Leben einen Sinn zu geben.
Wie Zdenka Becker im April 2006 in einem Interview mit Ingrid Reichel
gesagt hat, spiegelt der Roman nicht unbedingt ihre
persönliche Geschichte, obwohl die Grundkonstruktion des
Buches an ihre Biografie erinnere. Zdenka Becker, 1951 in Eger geboren
und lange in Bratislava wohnhaft, emigrierte 1975 nach
Österreich und begann 1986 auf Deutsch zu schreiben. Beim
Lesen des Buchs wird aber das Gefühl immer stärker,
dass hinter eigentlich allen vier Hauptfiguren, der Mutter
Róza, ihren drei Töchtern und Eva, der Freundin der
mittleren Tochter, die quasi bei der Familie Bukovská
aufwächst, eine ganze Menge eigener Erfahrungen und Erlebnisse
stecken. Und gerade das ist es, was das Buch von der ersten Seite so
interessant macht. Schon nach ein paar Seiten verfällt man dem
Tempo dieser meisterhaft erzählten Familiengeschichte, man
hofft und leidet mit den Figuren.
Erzählt wird die Geschichte von Róza
Bukovská und ihrer drei Töchter Iris, Jasmine und
Kamilla. Alle drei üben auf je eigene Weise die Rebellion
gegen eine Mutter, die ein strenges und hartes
Erziehungsregiment
führt. Zdenka Becker fügt diese an sich schon
begeisternde Geschichte ein in die Geschichte des Landes CSSR und
spannt einen zeitgeschichtlichen Bogen von der Zeit am Ende des Zweiten
Weltkriegs über den Prager Frühling, den die
Schwestern und ihre Freundin Eva mitten in der Blüte ihrer
Jugend erleben und erleiden, bis in die allerjüngste Gegenwart.
Die Rebellion gegen das strenge Regiment der Mutter verbindet sich mit
dem Aufbegehren gegen die kommunistische Gesellschaftsordnung. Und so
kommt es, dass Iris nach Amerika auswandert, während Jasmine
und Eva nach Österreich emigrieren. Lediglich Kamilla, die
jüngste Tochter, bleibt im Land und versteht es ziemlich gut,
aus dem System ihren persönlichen Nutzen zu ziehen.
Zdenka Becker verfolgt in wechselndem Rhythmus die Geschichten dieser
vier jungen Frauen und verknüpft sie miteinander. Obwohl ihre
früher engen Beziehungen dünner und
spärlicher werden, was durch die Distanz auch naheliegend ist,
entfremden sie sich regelrecht voneinander und teil- und zeitweise auch
von sich selbst, denn sie fühlen sich in der Fremde ihrer
Wurzeln beraubt.
Und das ist das eigentliche Thema dieses absolut gelungenen Buchs. Das
Wegbrechen oder Verschwinden aller, unzerbrechlich geglaubter Bindungen
und die lebenslange Suche nach einer eigenen, in der Fremde und im
Erwachsensein notwendigerweise neuen
Identität.
Je weiter der Leser im Buch voranschreitet, desto deutlicher wird: es
gibt im Leben kein Zurück; zwar wirkt die Vergangenheit in
unser jetziges Leben hinein, aber sie ist vorbei. Neues beginnt, immer
wieder, und der eigentliche Sinn des Lebens liegt offenbar darin
verborgen, dieses Neue zu entdecken, für sich fruchtbar zu
machen, sich zu bewegen und sich bewegen zu lassen.
Den vier jungen Frauen gelingt das unterschiedlich gut, und gerade
diese vier unterschiedlichen Leben und Lebensentwürfe sind es,
die dem Leser mannigfaltige Identifikationsmöglichkeiten
bieten und reichlich Stoff für die innere Auseinandersetzung
mit den einzelnen Figuren.
Zdenka Beckers Sprache ist einfühlsam; langsam und vorsichtig
tastet sie sich zu ihren Figuren vor und beschreibt in ihrem Namen
Erfahrungen, von denen sie viele wohl selbst gemacht hat. Erfahrungen
von Unterwegssein, das Gefühl der Fremde im eigenen Land und
des langsamen Heimischwerdens im fremden.
Ein großes Buch einer großen Erzählerin.
(Winfried Stanzick; 12/2006)
Zdenka
Becker: "Die Töchter der Róza Bukovská"
Residenz Verlag, 2006. 413 Seiten.
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