Reinhard Baumgart: "Damals"
Ein Leben in Deutschland 1929-2003
Ein
Sowohl-als-auch-Sager
Den vorliegenden Text mit dem Untertitel 'Ein Leben in Deutschland'
hatte Baumgart (1929-2003) kurz vor seinem Tod am Gardasee fertig
korrigiert. Er bekennt, dass er durch "Verlusterfahrungen" zum
Aufschreiben seiner Lebensgeschichte gelangte - und seinem Stil sowie
seiner Vorgehensweise ist anzumerken, dass hier ein Schriftsteller am
Werke ist, nicht nur ein Theoretiker, der er ja auch war. Er sei durch
seine Jugendzeit im Dritten Reich "gemütskrank" geworden, und
er ist sich dessen bewusst, dass man als Autobiograf immer nur seine
"subjektive Wahrheit" notieren könne - das habe bereits Goethe
in seiner Einleitung zu 'Dichtung und Wahrheit' einräumen
müssen.
Baumgarts Vater war in der NSdAP, Baumgart selbst muss mit zehn Jahren
zum Jungvolk - und er war "stolz auf die Uniform" - allerdings wird er
auch schon "mit Gräueldokumenten aufgeputscht und
verängstigt." Im Juni 1941 muss die Familie die Heimat
(Schlesien) verlassen, damit war "die Kindheit zu Ende." Einerseits
lernte Baumgart Boxen, andererseits wollte er nur "in Ruhe gelassen
werden, für sich sein." Er wollte sich "wegducken,
wegdrücken" und suchte sich seine "Nischen": chemische
Experimente, Sterngucken, Kino, Lesen - er las schon parallel
Karl
May, Schiller
und Shakespeare.
Zwischendurch verweist Baumgart kurz darauf, wie er und andere
Oberschüler sich geweigert hatten, der SS beizutreten. Im
Februar 1945 erlebt er die Bombardierung
Dresdens
mit. Nach Kriegsende holt er das Abitur nach und liest "verstreute
Lektüretrümmer", in München besucht er
moderne Theateraufführungen. Seine Abiturprüfung
besteht er glänzend, absolviert in vier Jahren sein Studium
der Geschichte und Literatur und promoviert (über 'Das
Ironische und die Ironie in den Werken
Thomas Manns') auch gleich zum
Dr. phil. in Freiburg - und wird schließlich Lektor im Piper
Verlag München - und dann sogenannter freier Schriftsteller.
Baumgart wird u.a. Literaturkolumnist beim Spiegel
und hat von Anfang an seine Probleme mit
Marcel
Reich-Ranicki, dem er die "Durchschlagskraft dieses
gewaltigen Talents für Vereinfachung" attestierte. Das
Verhältnis zwischen den beiden entspannte sich über
die Jahre, zumal Baumgart später auch für den
Literaturteil der FAZ unter der Leitung von MRR
schrieb - aber "ganz ungewittrig war die Stimmung zwischen uns nie" -
da Baumgart anlässlich des 'Literarischen Quartetts' noch
einmal noch einmal heftig über die "Wucht seiner
Simplifizierungen und feierlich verkündeten
Banalitäten" lästert. Inspiriert und eingeladen von
Th. W. Adorno hält Baumgart 1967 die letzte Frankfurter
Poetikvorlesung vor der Studentenrevolte mit dem Thema 'Aussichten des
Romans oder Hat Literatur Zukunft?' (vgl. die gleichnamige Buchausgabe
bei dtv). Ausgehend von einer Krise des Realismus beschrieb Baumgart
Parteilichkeit und Moralität als ästhetische
Kategorien. Er lieferte ein Plädoyer gegen wertfreie Literatur
und Wissenschaft - und forderte von der Literatur "schreibend die
Notwendigkeit von Veränderung zu demonstrieren."
Zur Gruppe
47 gelangt Baumgart erst, als diese 1957 am
Starnberger See ihr zehnjähriges Jubiläum feiert -
gesandt von Piper als Beobachter und "Textsucher". Im Jahr 1961 liest
er als Autor und ist "milde gescheitert". Er erinnert an das
dominierende Kritikerquintett Höllerer - Jens - Kaiser - Mayer
- Reich-Ranicki sowie an die Höhepunkte der Auftritte von
Grass
(1958) und Weiss (1963), an Wahlkampftreffen mit Willy Brandt (1965),
an Handkes provozierenden Auftritt in Princeton (1966). Baumgart erlebt
die faktische Auflösung der Gruppe 47 in
der oberfränkischen 'Pulvermühle' mit, flankiert von
höhnischen Sprechchören des SDS
Erlangen - auch wenn erst 1977 im schwäbischen Saulgau Hans
Werner Richter unter Tränen proklamiert: "Es ist zu Ende".
In den späten 60er und frühen 70er Jahren reiste
Baumgart viel, "aufgeladen mit Erwartungen, Hoffnungen". Er ist mit
seinem Vortragsprogramm über die 'Postmoderne' unterwegs. Dann
setzt er sich einen Schwerpunkt als Theaterkritiker, indem er
für die SZ die führenden
deutschen Theater besucht und Inszenierungen von Stein oder Zadek als
maßstabsetzend kennenlernt. Im Jahr 1970 wird er zudem noch
Stellvertreter Dieter Lattmans im Bundesvorstand des 1969 mit
Bölls legendärer Kölner Rede vom 'Ende der
Bescheidenheit' neugegründeten VS. Er war
der Überzeugung, "dass hier Schriftsteller endlich einmal
konkret politisch handeln könnten, für nichts
Höheres als ihre eigenen materiellen Interessen." Angestrebt
wurde die "Einigkeit der Einzelgänger", aber Autoren wie Uwe
Johnson ging dieser "eigensüchtige gewerkschaftliche
Aktionismus" gegen den Strich - wie Baumgart überhaupt mit
Johnson eine sehr anstrengende Freundschaft pflegte.
Zu den DDR-Autoren findet Baumgart kein rechtes Verhältnis, er
tut sich schwer mit den
RAF-Leuten
und deren dubiosem Ende in Stammheim gleichermaßen. Man
erlebt ihn immer wieder als Mann eines Sowohl-als-auch-Standpunktes -
was man allerdings weder in gesellschaftspolitischen noch in
persönlichen Angelegenheiten durchhalten kann. Ist man nicht
eigentlich als Sowohl-als-auch-Sager womöglich und
letztendlich ein Versager im streng aufklärerischen Sinn? Das
scheint auch genau das Problem zu sein, warum es
(vordergründig über die Auseinandersetzung mit
Wagner) zum Bruch der Freundschaft mit
Habermas kam, der für
klare Positionen war, dem Baumgart allerdings "agonales Temperament"
vorwirft. Dieser Bruch war für Baumgart ebenso schmerzhaft wie
die allmähliche Entfremdung mit
Walser - denn diese beiden
hatte er nicht nur geschätzt, sondern nach eigenem Bekenntnis
"geliebt".
Als 60jähriger kehrt Baumgart in akademische Gefilde
zurück - zunächst in Wapnewskis Wissenschaftskolleg,
dann auf Höllerers Lehrstuhl an der TU Berlin. Zur Zeit der
Wende versucht Baumgart den "neudeutschen Literaturstreit" zwischen Ost
und West historisch auszubalancieren. Er hat sich in allen
Zusammenhängen als ein Mann des Ausgleichs erwiesen - womit er
allerdings bei den konsequenten Entweder-Oder-Intellektuellen aneckte.
Er konnte auch über anspruchsvolle Dinge einfach schreiben -
und das macht dieses Buch so empfehlenswert als Sammlung
zeitgenössischer und literaturgeschichtlicher Stippvisiten in
diesem und jenem gesellschaftspolitischen und literarischen Milieu - wo
Baumgart ziemlich überall Zugang hatte, aber nie zum absoluten
Spitzenpersonal gehörte, auch weil er sich alle paar Jahre
wieder ein neues Betätigungsfeld suchte.
(KS; 01/2007)
Reinhard
Baumgart: "Damals. Ein Leben in Deutschland 1929-2003"
dtv, 2007. 384 Seiten.
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