Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela: "Der Baum der Erkenntnis"
Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens
"Wir werden nämlich
eine Sicht vortragen, die das Erkennen nicht als eine
Repräsentation der 'Welt da draußen' versteht,
sondern als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozess
des Lebens selbst." (Humberto Maturana, Francisco Varela)
Wie in der Vorbemerkung
angedeutet, geht es in dem Buch um einen alternativen Ansatz zum
Verständnis der elementaren biologischen Vorgänge,
durch die wir zu Wissen bzw. Erkenntnis gelangen. Die Neurobiologen Maturana und Varela versuchen, lebende Systeme als den Prozess zu
verstehen, der diese verwirklicht, und sie nicht - wie in der
traditionellen Biologie - durch die Beziehung zu ihrer Umwelt zu
erklären. Humberto Maturana beschäftigt sich seit den
1960er-Jahren mit diesem Thema. Varela war in den 1960er-Jahren Student
bei Maturana und wurde später sein Mitarbeiter. Das Buch ist - passend zum Thema
- zirkular aufgebaut. Am Ende angekommen, könnte man folgerichtig beim ersten
Kapitel weiterlesen.
Damit die Leser sich dem
schwierigen Inhalt des Buches möglichst vorurteilsfrei
nähern, thematisieren die Autoren gleich zu Beginn des ersten
Kapitels anhand des Bildes "Dornenkrönung" von
Hieronymus
Bosch die "Versuchung der Gewissheit". Im Alltag
verlässt der Mensch sich auf seine Wahrnehmung und ist sich
möglicher blinder Flecken (am Beispiel des Auges
erläutert) nicht bewusst. Das Erstaunliche am blinden Fleck
ist, dass dem Menschen trotzdem eine geschlossene Welt
präsentiert wird. Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen.
Maturana und Varela beschreiben das Phänomen des Erkennens
auf
konstruktivistische Art: Jeder Akt des Erkennens bringt eine Welt hervor.
In den weiteren Kapiteln geht
es um die Organisation des Lebendigen. Was ist das Merkmal von
Lebewesen? Die Fragestellung impliziert bereits die Anerkennung einer
bestimmten Organisationsform. Die Autoren schlagen vor, dass Lebewesen
sich dadurch charakterisieren, dass sie sich permanent selbst erzeugen.
Die zugrunde liegende Organisation ist die autopoietische Organisation.
"Autopoiese" kann man mit "Selbsterzeugung" übersetzen.
Lebende Systeme realisieren sich als Produkte ihrer eigenen
Operationen. Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind
untrennbar verbunden, und dies bildet ihre spezifische Art von
Organisation. Dieser Denkansatz ist wegen der
Selbstbezüglichkeit nicht leicht zu verstehen, bildet aber
eine wesentliche Grundlage des Systembildes von Maturana und Varela.
Auf dem Prinzip der Autopoiese aufbauend, werden komplexe Strukturen
bis hin zum Nervensystem beschrieben. Hierbei verwenden die Autoren
eine Vielzahl neuer abstrakter Begriffe.
Maturanas und Varelas erkenntnistheoretische Überlegungen haben Auswirkungen auf das
Verständnis der
Evolution.
Da ihr Systembild nicht zulässt, dass durch
natürliche Auslese eine Anpassung an die (objektive) Umwelt
erfolgt, verwenden sie den Begriff "natürliches Driften"
für die Strukturveränderungen im Rahmen der
Evolution. Das natürliche Driften "erscheint" dem Beobachter
als durch das Milieu selektiert. Sie berufen sich dabei auf Darwin, der
nie deutlich gemacht, ob der Begriff der natürlichen Auslese
für ihn mehr als bloß eine sinnvolle Metapher war.
Das Systembild von Maturana und
Varela hat Auswirkungen auf die Interpretation von Verhalten und auf
soziale Phänomene. Interessant sind die Ausführungen
zur Bedeutung der Sprache.
Die Biologie zeigt uns, dass die Einzigartigkeit des Menschseins
wesentlich durch das In-der-Sprache-Sein begründet liegt.
Eine Erkenntnistheorie hat zu
zeigen, wie das Erkennen die Erklärung des Erkennens erzeugt.
Hier schließt sich der Kreis. Es gibt keinen festen
Bezugspunkt. Wenn wir die Existenz einer objektiven Welt voraussetzen,
die von uns als den Beobachtern unabhängig und die unserem
Erkennen durch unser Nervensystem zugänglich ist, dann
können wir nicht verstehen, wie unser Nervensystem eine
Repräsentation dieser unabhängigen Welt erzeugen
soll. Setzen wir jedoch nicht eine von uns als Beobachtern
unabhängige Welt voraus, scheinen wir zuzugestehen, dass alles
relativ ist und dass alles möglich ist, da es keine
Gesetzmäßigkeiten gibt.
Zwischen diesen beiden extremen
Positionen einen Mittelweg zu finden, ist Zielsetzung der Autoren.
In "Der Baum der Erkenntnis" geht es nicht nur um einen alternativen Ansatz zum Verständnis
der elementaren biologischen Vorgänge, sondern auch um einen
(neuro-)philosophischen Ansatz. Genau genommen wird die von Mystikern
behauptete Einheit von Subjekt und Objekt und damit die untrennbare
Ganzheitlichkeit des Seins naturwissenschaftlich begründet.
Hier liegt die zentrale Bedeutung dieses neuen Modells.
Mit dem Buch "Der Baum der Erkenntnis" liegt dem deutschsprachigen Leser zum ersten Mal eine
zusammenhängende Darstellung des Werkes der chilenischen
Biologen und Erkenntnistheoretiker Humberto Maturana und Francisco
Varela vor. Das Buch entstand aus einer Vortragsreihe, in der die
Autoren in Santiago unter der Schirmherrschaft des Generalsekretariats
der Organisation Amerikanischer Staaten ihr Systembild
vorstellten.
(Klemens Taplan)
Humberto R. Maturana
und Francisco J. Varela: "Der Baum der Erkenntnis.
Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens"
Fischer, 2012. 288 Seiten.
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Francisco J. Varela wurde, zusammen mit Humberto Maturana, vor allem für die Einführung der Theorie der Autopoiesis bekannt. Er war in Kontakt mit führenden Bewusstseinsforschern wie Daniel Goleman und Heinz von Foerster und versuchte, nicht zuletzt durch seine Bekanntschaft mit dem Dalai Lama, Brücken zum Buddhismus zu schlagen. Er lehrte bis zu seinem frühen Tod im Jahr 2001 am "Centre national de la recherche scientifique" ("CNRS").