Attila Bartis: "Die Ruhe"
"Die Hölle, das sind die anderen." (Sartre)
Fünfzehn
Jahre lang hat Rebeka Weér, einstmals gefeierte
Schauspielerin in Budapest, keinen Fuß mehr vor die
Tür ihrer mit diskret entwendeten Theaterrequisiten
vollgestopften Wohnung gesetzt: seit sich ihre Tochter Judit, eine
hochtalentierte Geigerin, mit der Meistergeige der Familie in den
Westen abgesetzt hat und Rebeka Weér deshalb -
kommunistische Sippenhaft! - jegliche weitere berufliche Perspektive
verwehrt wurde.
Bei ihr blieb Sohn Andor, der Ich-Erzähler.
Der Roman beginnt mit den Beerdigungsvorbereitungen für die
nun verstorbene Mutter und setzt sich in einem Reigen von lose
miteinander verbundenen Rückblenden fort, die teilweise selbst
wieder Rückblenden enthalten. Aus diesen Puzzleteilchen setzt
der Leser allmählich die Geschichte der Familie
Weér und ihre Auswirkung auf die schicksalhafte Verbindung
zwischen dem Erzähler und seiner Geliebten Eszter
Fehér zusammen: Was anfangs nach einer schrägen
Geschichte über die Beziehung zwischen einer schrulligen
Künstlerin und ihrem alle Klischees bedienenden
Muttersöhnchen aussieht, entwickelt sich rasch zu einer von
existenzialistischen Elementen geprägten Tragödie
über die Unmöglichkeit, den Abgründen des
Ich zu entkommen.
Der totalen Kontrolle durch die Mutter, die sogar ihre
abtrünnige Tochter für tot erklärt und
symbolisch auf einem Budapester Friedhof beerdigt hat (sein bisschen
Freiheit spielt sich zwischen "Wannkommstdu" und "Wowarstdu" ab), steht
Eszter Fehérs Glaube an seine schriftstellerischen
Fähigkeiten gegenüber, ihre Versuche, ihn aus der
Hölle in jener Wohnung zu befreien. Und doch ist immer
erkenntlich, dass Eszter im Unterbewusstsein die Unmöglichkeit
der Befreiung ahnt, weshalb sie mehrmals in Sanatorien landet.
Offensichtlich können auch tödlicher Hass und Scham
unlösbare Bindungen schaffen.
Als Eszter beginnt, sich vom Erzähler zu distanzieren, und auf
die schmerzliche Suche nach ihren eigenen Wurzeln geht, mit der sie
sich schließlich, ganz im Gegensatz zu ihrem Geliebten,
aussöhnen kann, unternimmt dieser einen ersten ernsthaften
Versuch zur Selbstbefreiung: Er bleibt der Wohnung der Mutter einige
Tage fern, worauf diese wie von ihm erwartet stirbt.
Das Ende bleibt offen und deutet dennoch an, dass der Erzähler
dem durch seine Vergangenheit errichteten Gefängnis aus Hass,
Erpressung und gegenseitiger Demütigung nicht entrinnen wird,
auch wenn er in einem symbolischen Akt das gesamte Mobiliar der Wohnung
entsorgt.
Attila Bartis' Roman, der zeitlich rund um den Zusammenbruch des
Kommunismus in Ungarn angesiedelt ist, weist starke Bezüge
sowohl zur damaligen Politik - dem Zerfall des maroden Systems und der
anschließenden Orientierungslosigkeit - als auch zum
philosophischen Gedankengut existenzialistischer Strömungen
auf. Die im Klappentext erwähnten Anklänge an
Camus
und Sartre
sind offensichtlich. In Sartres "Geschlossene Gesellschaft" definiert
sich die Hölle als Interaktion zwischen aufeinander
angewiesenen Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und
Interessen. Camus wiederum thematisiert in "Die Pest" die
Absurdität der Auflehnung gegen die Sinnlosigkeit des Seins.
Beide Elemente prägen "Die Ruhe"; Hass,
zerstörerische Leidenschaft und zumeist halbherziges
Aufbegehren gegen das offenbar Unvermeidliche stehen im Vordergrund.
Die Religion bietet sich als "Hüterin des Auswegs" an, hat
aber keine pragmatische Lösung parat und wird daher abgelehnt.
Und Liebe scheitert: Sie führt zur Selbstzerstörung
durch Obsession, wie Eszter Fehér erfahren muss, der es
jedoch zumindest scheinbar gelingt, dem Grauen der Weérschen
Hölle zu entkommen, die zur ihrer eigenen wurde.
Attila Bartis' Sprache ist auf das Wesentliche reduziert: reich an
ausdrucksstarken Verben, eher sparsam, was Adjektive angeht, nicht
selten aggressiv und provokativ, wodurch die Handlung eine
düstere Intensität erhält. Manche Szene, und
sei sie nur eine scheinbar flüchtig hingeworfene Skizze,
gleicht einem expressionistischen Bild: "Sie stand so allein auf der
Bühne, als hätte Gott vergessen, um sie herum eine
Welt zu erschaffen." Ecce homo.
Suhrkamp hat dieses außergewöhnliche Buchprojekt in
gewohnter Qualität umgesetzt. Die herausragende
Übersetzung aus dem Ungarischen - mit Sicherheit eine sehr
schwierige Aufgabe - und die hochwertige Ausstattung bei schlichtem
Design bieten die attraktive Grundlage für einen Roman, der
Beachtung verdient.
(Regina Károlyi; 08/2005)
Attila
Bartis: "Die Ruhe"
(Originaltitel "A Nyugalom")
Aus dem Ungarischen von Agnes Relle.
Suhrkamp, 2005. ca. 300 Seiten.
ISBN 3-518-41682-0.
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Attila Bartis, am 22. Jänner 1968 in Marosvásárhely im rumänischen Siebenbürgen geboren, lebt seit 1984 in Budapest. Er ist gelernter Fotograf und hat bisher drei Bücher veröffentlicht.
Lien:
Interview
mit Attila Bartis über seinen Roman "Die Ruhe"
Zwei weitere Bücher des Autors:
"Der
Spaziergang"
Jemand erzählt: vom Erwachsenwerden in revolutionären
Zeiten, in denen Religiosität nur noch als Aberglaube oder
Zynismus möglich ist; erzählt vom Leben, vom Sterben
und vom Töten; vom
Mond, der auf der schäbigen Kulisse eines
Fotoateliers über dem falschen Ufer des Sees steht, von dessen
fauligem Wasser sich die Kurgäste Genesung erhoffen, was aber
kaum eine Rolle spielt, weil die amputierten Beine des Kosmonauten, die
in der Hauptstadt als Nationalheiligtum verehrt werden, den Mond
ohnehin nie betreten haben. (Suhrkamp)
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"Das Ende"
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