Julian Barnes: "Der Zitronentisch"
Gesprochen von Joachim Król
(Hörbuchrezension)
Ich hasse es, wenn ich keine Angst haben darf
"Random House Audio" veröffentlichte ein von Joachim Król gelesenes Hörbuch mit drei Kurzgeschichten des
englischen Schriftstellers Julian Barnes, welche seinem Band "Der
Zitronentisch" entnommen wurden. Thematisch befassen sich alle mit
Abschieden, dem Altern oder unerfüllten Vorsätzen.
Doch es erwartet den Hörer keine Depressionen
auslösende Geschichtensammlung. Die den Themen innewohnende
negative Akzentuierung nimmt ihnen Barnes durch eine gehörige
Portion schwarzen Humor, geschliffene Dialoge und perfekt positionierte
Charaktere, die schon allein gemäß ihrer Anlagen
für einen außergewöhnlichen
Hörgenuss stehen und durch den Sprecher Joachim Król noch an Intensität und Brillanz gewinnen.
Den Auftakt bildet "Eine kurze Geschichte des Haareschneidens", und
gleich mit dieser Geschichte vermag der Autor den Hörer
elegant zu verunsichern, impliziert der Titel doch etwas
gänzlich Anderes, als letztendlich zu Gehör gebracht
wird. Allegorisch wird eine so banale menschliche Verrichtung wie das
Haarschneiden zur Verdeutlichung gesellschaftlicher Strömungen
und menschlicher Entwicklung vom Kind zum reifen Erwachsenen
herangezogen und in drei für sich allein stehende Episoden
gekleidet. In der ersten hasst Gregory, so der Name des Protagonisten,
den obligatorischen Besuch "bei dem Irren mit den riesigen
Händen, der dir den Kopf runterdrückte, bis es dir
schier die Luftröhre zerriss. Der dir mit seinen Bambusfingern
ins Ohr stach." Er möchte liebend gern gegen den dominanten
Quälgeist aufbegehren, findet jedoch keinen Rückhalt
und muss sich in sein Schicksal ergeben, nicht ohne jedoch in
düsteren Gedanken zu schwelgen.
In der mittleren Episode ist Gregory zum jungen, aufmüpfigen
Wilden mutiert, der nur zum Friseur geht, weil ihn gerade seine
Freundin verlassen hat. Er trauert ihren Haarschneidekünsten
nach und hat eine diebische Freude daran, den Friseur durch provokante
Äußerungen in Verlegenheit zu bringen. Doch
letztendlich erweist sich der routinierte Friseur dem Studenten als
rhetorisch überlegen, und Gregory wird wieder
gedemütigt.
Im letzten Abschnitt ist aus dem feindseligen Friseur eine junge
hübsche Friseuse geworden und aus den Zwangsbesuchen eine fast
liebgewonnene Gewohnheit. Doch wahre Freude kann Gregory aus den
Besuchen nicht ziehen, zeigt ihm der Blick in den Spiegel doch die
sichtbaren Alterserscheinungen wie beispielsweise die beginnende Glatze.
Die gesamte Erzählung bezieht ihre Spannung aus den inneren
Dialogen, welche Gregory führt und in denen eine ganz andere
Sprache gesprochen wird, als in den tatsächlichen Dialogen.
Diese wirken teils etwas gestellt oder aufgesetzt, verstärken
aber durch diesen stilistischen Kniff die Diskrepanz zwischen
Gedankenfluss und direkter Rede und führen dem Hörer
so die Unfähigkeit Gregorys vor Augen, bis ins hohe Alter
hinein tatsächlich seinen Gefühlen freien Lauf zu
lassen. Lieber bewegt er sich in Allgemeinplätzen, statt zu
seiner Meinung zu stehen, statt einmal aus sich herauszugehen und
Flagge zu zeigen. Selbst jetzt, an der Schwelle zum Rentenalter, vermag
er nicht aus dem in früher Kindheit eingetrichterten
Verhaltenskodex auszubrechen und bleibt damit eng in den Bahnen, welche
er in Kindheit und Jugend so verachtet hat, welche ihn ständig
demütigten.
Später Abschied
"Der Obstbaumkäfig" ist der Titel der zweiten Geschichte. Der
Erzähler ist der Sohn eines seit über 50 Jahren
verheirateten, in Routine erstarrten Ehepaares mit einer dominanten
Mutter und einem scheinbar schicksalergebenen Mann. Doch Barnes
verblüfft auch hier, denn sein Vater verlässt in
hohem Alter seine Frau, um mit einer wesentlichen Jüngeren das
Glück zu finden, bevor "alles vorbei ist."
Den absoluten Höhepunkt sowohl in literarischer als auch
rezitativer Hinsicht bildet die letzte Geschichte mit dem Titel "Die
Stille". In dieser lässt Barnes den gealterten Komponisten
Sibelius über den Tod, sein Schaffen und darüber,
"was bleibt" sinnieren. Joachim Król spricht diese
Geschichte mit fast gebrochener, jedoch kraftvoller und fester Stimme
und unterstreicht dadurch sowohl die Zerbrechlichkeit des Greises und
seiner ambivalenten Haltung gegenüber Publikum und Kritikern
als auch die Abgeklärtheit und Bereitschaft zuzugeben, dass er
zu einem Punkt gefunden hat, an dem es keine Rolle mehr spielt,
bejubelt oder kritisiert zu werden. Seine Wünsche sind
bescheidener geworden, und so sehnt er sich nur noch danach, "die
Kraniche zu sehen" oder dass man ihm eine Zitrone als Grabbeigabe in
den Sarg legt. Und ähnlich symbolbefrachtet wie die titelgebende Zitrone ist auch der Kranich, der in China als eine
Metapher für Langlebigkeit und Weisheit gilt.
(Wolfgang Haan)
Julian Barnes: "Der Zitronentisch"
(Originaltitel "The Lemon Table")
Aus dem Englischen von Gertraude Krueger.
Random House Audio, 2006. 2 CDs, Laufzeit ca. 140 Minuten.
Sprecher: Joachim Król.
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Buchausgabe:
Kiepenheuer & Witsch, 2005. 272 Seiten.
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Julian
Barnes, 1946 geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen
zunächst als Lexikograf, dann als Journalist. Barnes, der
zahlreiche europäische und us-amerikanische Literaturpreise
erhielt, hat ein umfangreiches erzählerisches Werk vorgelegt, darunter:
"Flauberts Papagei", 1987, "Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln", 1990,
"Darüber reden", 1992. Der Autor lebt und arbeitet in London.
Julian Barnes erhielt übrigens den
Österreichischen
Staatspreis für Europäische Literatur.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Vom Ende einer Geschichte"
Wie sicher ist Erinnerung, wie unveränderlich die eigene Vergangenheit?
Tony Webster muss lernen, dass Geschehnisse, die lange zurückliegen und von
denen er glaubte, sie nie mehr hinterfragen zu müssen, plötzlich in einem ganz
neuen Licht erscheinen.
Als Finn Adrian in die Klasse von Tony Webster kommt, schließen die beiden
Jungen schnell Freundschaft. Sex und Bücher sind die Hauptthemen, mit denen sie
sich befassen, und Tony hat das Gefühl, dass Adrian in allem etwas klüger ist
als er. Auch später, nach der Schulzeit, bleiben die beiden in Kontakt. Bis die
Freundschaft ein jähes Ende findet. Vierzig Jahre später, Tony hat eine Ehe,
eine gütliche Trennung und eine Berufskarriere hinter sich, ist er mit sich im
Reinen. Doch der Brief eines Anwalts, verbunden mit einer Erbschaft, erweckte
plötzlich Zweifel an den vermeintlich sicheren Tatsachen der eigenen Biografie.
Je mehr Tony erfährt, desto unsicherer scheint das Erlebte und desto
unabsehbarer die Konsequenzen für seine Zukunft.
Ein Text mit unglaublichen Wendungen, der den Leser auf eine atemlose
Achterbahnfahrt der Spekulationen mitnimmt. (Kiepenheuer & Witsch)
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"Arthur & George"
Zwei Männer, geprägt vom ausgehenden 19. Jahrhundert
in Großbritannien,
begegnen sich in einer entscheidenden und dramatischen Phase ihres
Lebens: Arthur Conan Doyle, der Erfinder von Sherlock Holmes, und George
Edalji, ein kleiner Provinzanwalt. Julian Barnes schildert sie auf faszinierende
Weise vor dem Hintergrund ihrer Zeit.
Arthur und George könnten unterschiedlicher nicht sein. Der
eine, aus niederem schottischen Adel stammend, wird Augenarzt, dann ein erfolgreicher
Schriftsteller und einer der berühmtesten Männer
seiner Zeit. Der andere, braves Kind eines anglikanischen Dorfpfarrers indischer Herkunft, wird
ein kleiner Rechtsanwalt in Birmingham. Beide sind sie zutiefst den
Konventionen und Ehrvorstellungen ihrer Epoche verhaftet, Arthur leidet zudem unter
einer schwierigen Liebesbeziehung.
Ihre Wege kreuzen sich, als Arthur ein einziges Mal in seinem Leben in
die Rolle des
Sherlock Holmes schlüpft, um George zu helfen, der Opfer
eines skandalösen, rassistisch motivierten Justizirrtums geworden ist. Das Verfahren wird
wieder aufgerollt. Arthur gelingt es, Georges Ehre zu retten. (Kiepenheuer
& Witsch)
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"Tour
de France"
Ob Charme oder Chanson, Kunst oder Küche,
französische Lebensart oder Literatur - Julian Barnes
weiß gar manches über Frankreich. Er schreibt
darüber mit Esprit und großer Kenntnis und
lädt den Leser ein zu einer vielseitigen "Tour de France".
Julian Barnes reiste schon als Junge mit seinen Eltern als Tourist
nach
Frankreich. Auf den Fahrten im Familienwagen durch die
Provinz nahm er das Land auf der anderen Seite des Kanals jedoch
anfangs mit der Überheblichkeit des typischen Inselbewohners
wahr - eigenartig schmeckender Käse, blutiges Fleisch,
undefinierbare Soßen, bitterer Kaffee und viele Kathedralen.
Doch dieser hartgesottene junge Brite kann letztlich dem Zauber der
französischen Zivilisation nicht widerstehen. Barnes lernt
Französisch und geht nach dem Studium ein Jahr als
Austauschlehrer nach Rennes. Julian Barnes hat sich immer wieder
schreibend mit Frankreich befasst, mit Aspekten des Alltags, mit Film,
Musik und Literatur, wie der Band "Tour de France" anregend zeigt.
Insbesondere aber interessiert sich Barnes für
Gustave
Flaubert, den großen Romancier des 19.
Jahrhunderts. Flauberts Leben, die Figuren seiner Romane, die
Korrespondenz und die Flaubertsche Familie sind Teil von Julian
Barnes’ schriftstellerischer Welt geworden. Man
weiß es schon seit langem, seit seinem Kultroman "Flauberts
Papagei".
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"Fein
gehackt und grob gewürfelt. Ein Pedant in der Küche"
Julian Barnes, am Küchenherd ein Spätberufener,
erzählt von seinen Gefühlen und Abenteuern, seinen
Triumphen und Niederlagen zwischen Kochtopf und Schneidebrett, zwischen
Küche und Esstisch. Wer selbst kocht, der weiß es -
zwischen Rezept und fertigem Gericht können Welten liegen,
Triumphe oder Niederlagen, zunächst sind da vor allem aber
Zweifel. Der Pedant in der Küche, der alles richtig machen
möchte, gläubig und ängstlich
Kochbücher konsultiert, sieht sich vielen
Unwägbarkeiten ausgesetzt. Wie groß ist eine
"mittlere Zwiebel", die das Rezept erfordert? Wie heiß
mittlere Hitze? Wie umfangreich eine Prise?
Er möchte doch alles richtig machen: gutes und schmackhaftes
Essen zubereiten, seine Freunde nicht vergiften, sein Repertoire
langsam erfolgreich erweitern. Mancher Hobbykoch wird sich an die
eigenen Bemühungen in der Küche erinnern, mit Julian
Barnes Kochbücher und ihre schönfärberischen
Illustrationen verfluchen, Soßen abschmecken und traurig ein
zusammengefallenes Soufflé betrachten. Dankbar wird er den
trotzig-selbstbewussten Satz nachsprechen: Hier ist kein Restaurant.
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"Flauberts
Papagei"
Welcher der beiden ausgestopften Papageien hat Flaubert zu einem seiner
größten Werke inspiriert? Warum hat der Meister die
Augenfarbe von Madame Bovary verändert? Und warum sind diese
Details so wichtig für den exzentrischen Arzt im Ruhestand
Geoffrey Braithwaite? In seiner literarischen Tour de Force
ergründet Julian Barnes nicht nur die Obsession des Dr.
Braithwaite.
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Rede des österreichischen
Staatssekretärs
Franz
MORAK anlässlich der Verleihung des
Österreichischen Staatspreises für
Europäische Literatur an Julian Barnes am 9. August 2005
Es gilt das gesprochene Wort
Sehr verehrter Julian Barnes,
sehr geehrte Frau Kavanagh,
sehr geehrte Frau Landeshauptfrau Burgstaller,
sehr geehrter Herr Dr. Maar,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die Republik Österreich vergibt bereits seit dem Jahre 1965
für besondere Leistungen auf dem Gebiet der
europäischen Literatur einen eigenen Staatspreis. Seit vier
Jahren findet die Überreichung dieses Preises im Rahmen der
Salzburger Festspiele statt. Und ich verrate Ihnen kein Geheimnis, wenn
ich sage, dass wir damit ursprünglich den Wunsch des
Preisträgers des Jahres 2001,
Umberto
Eco, erfüllt haben. Weil diese Preisverleihung in
Salzburg von den Gästen und den Medien
äußerst positiv aufgenommen wurde, haben wir auch
die Preisträger der Folgejahre,
Christoph Hein und
Cees
Nooteboom, nach Salzburg eingeladen. Nach einem
italienischen, einem deutschen und einem niederländischen
Schriftsteller wird heute der englische Romancier Julian Barnes mit
diesem Preis ausgezeichnet, der gemeinsam mit seiner Gattin nach
Salzburg gekommen ist.
Sehr geehrte Frau Kavanagh, sehr geehrter Herr Barnes, herzlich
Willkommen in
Salzburg!
Wo wäre die Verleihung eines europäischen Preises
besser angesiedelt als hier an der Salzach, in einer Stadt, in der seit
mehr als 80 Jahren international renommierte Künstlerinnen und
Künstler zusammenkommen, um bedeutende Theaterstücke,
Opern und Musik vor einem Publikum aus aller Welt zu
präsentieren.
Ich freue mich daher, dass wir auch heuer wieder zu Gast in der
Residenz sein können. Ihnen, sehr geehrte Frau Landeshauptfrau
Burgstaller, herzlichen Dank dafür, dass Sie diese
bewährte Kooperation zwischen Bund und Land fortsetzen.
Verstehen Sie diese Verleihung eines Bundespreises im Land Salzburg
auch als ein Signal für die Bedeutung des
Föderalismus im Bereich der Kunst und Kultur. Und
dafür, dass ich den Bundesländern und Regionen in
meiner kulturpolitischen Arbeit einen besonderen Schwerpunkt gewidmet
habe.
Ebenso herzlich begrüßen darf ich
Landeshauptmannstellvertreter Dr. Wilfried Haslauer. Mein
Gruß und Dank für ihre Unterstützung gilt
auch der Präsidentin der Salzburger Festspiele, Dr. Helga
Rabl-Stadler. Und schließlich möchte ich den Wiener
Philharmonikern - an ihrer Spitze Dr. Clemens Hellsberg - danken, die
unsere Verleihung musikalisch begleiten und auf Wunsch von Julian
Barnes Stücke von
Joseph Haydn spielen.
Herzlich Willkommen heißen möchte ich meinen
Kollegen aus Großbritannien, den britischen Kulturminister
David Lammy, der gegenwärtig innerhalb der
Europäischen Union die Ratspräsidentschaft im Bereich
Kultur innehat. Bei unserem heutigen Arbeitsgespräch in
Salzburg haben wir all jene Aspekte erörtert, die im Bereich
Kultur und Medien die österreichische
Ratspräsidentschaft dominieren werden. Auch wenn wir in
Österreich z.B. in Sachen Buchpreisbindung einen anderen Weg
wie die Briten eingeschlagen haben, gibt es viel Verbindendes zwischen
unseren kulturpolitischen Positionen. Ich möchte die
Gelegenheit benützen, Ihnen, sehr verehrter Herr Minister
Lammy, und Ihrem Team für Ihre bisherigen Bemühungen
zu danken. Ich hoffe sehr, dass wir an die Ergebnisse der englischen
Präsidentschaft im Bereich Kultur nahtlos und im Sinne der auf
der Agenda stehenden Reformvorhaben werden anschließen
können. Dies betrifft insbesondere die beiden neuen Programme
im kulturellen und audiovisuellen Bereich, Kultur 2007 und Media 2007.
Als weitere hochrangige internationale Gäste möchte
ich den persönlichen Vertreter von Staatsminister Dr. Thomas
Goppel, Herrn Ministerialdirigent Toni Schmid vom Bayerischen
Staatsministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst,
herzlich Willkommen heißen, und den Vertreter der finnischen
Kulturministerin, Herrn Risto Kivelä.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Wer heute in Europa Belletristik schreibt, ist nicht alleine: Er
befindet sich nämlich im Echoraum der europäischen
Literatur, in dem unzählige andere Stimmen in
vielfältigen Formen, Stilen und Sprachen seit Hunderten von
Jahren Geschichten über diesen unseren Kontinent und seine
Bewohner erzählen. Zu Recht können wir von einer
Kontinuität und Tradition der europäischen Literatur
sprechen, die sich vielleicht am deutlichsten zeigt, wenn wir an unsere
Klassiker denken: an
Herodot
und Homer etwa, oder an Catull,
Ovid und Vergil, an
Dante,
Cervantes und Shakespeare,
bis hinauf zu den großen Autoren der Moderne wie Flaubert und
Proust,
Kafka,
Joyce und
Beckett.
Diesem vielstimmigen und vielsprachigen Chor von Schriftstellern steht
eine ebenso vielstimmige wie vielsprachige europäische
Leserschaft gegenüber, die keinerlei institutionelle Form
besitzt. Aber wer die Bücher europäischer Autorinnen
und Autoren zur Hand nimmt, lässt sich auf eine Art geistiger
Verwandtschaft mit ihren Schöpfern und mit anderen Lesern ein.
Auch wenn diese Werke weit über Europa hinaus
geschätzt und gelesen werden und Teil der Weltliteratur
geworden sind, gehören sie ganz wesentlich zur "mental map"
und zur geistigen Landschaft unseres Kontinents, die eben auch von
Odysseus und Penelope,
Don
Quijote und Sancho Pansa, Madame Bovary, Leopold Bloom, Josef
K. oder Wladimir, Estragon und Godot bewohnt wird.
Wir machen uns Bilder von der Welt, um zu sehen, wie und ob wir
zusammengehören. Wir erzählen Geschichten, um unsere
Gemeinsamkeiten und Unterschiede kennen zu lernen. Wir lesen
Erzählungen und Romane, um unsere Phantasie zu aktivieren,
unseren Verstand zu schärfen und unsere
Urteilsfähigkeit herauszufordern. Im Reich der Fiktion erleben
wir spielerisch, wie es anderen ergangen ist oder ergehen kann.
Literatur zu lesen bedeutet zusätzlich zu dem
Vergnügen, das es bereitet, immer auch das
Überschreiten der eigenen Grenzen, die Ausbildung und
Befragung sowohl des individuellen wie auch des kollektiven
Selbstverständnisses. In der Literatur können wir
unseren Wirklichkeitssinn schärfen und unseren
Möglichkeitssinn erproben, in der Literatur können
wir unser Leben und unsere Geschichte immer wieder aufs Neue betrachten
und befragen.
In vielen Fällen bietet uns die Begegnung und
Auseinandersetzung mit Literatur die lebendige Erinnerung unserer
Vergangenheit, die Erfahrung unserer Gegenwart und da und dort einen
Blick auf unsere Zukunft. Manchmal macht sie uns auch deutlich, was es
bedeutet, Engländer, Franzose oder Österreicher zu
sein. Oder macht uns begreifbar, was es heißt, im Europa des
beginnenden 21. Jahrhunderts zu leben.
Zur geistigen Signatur einer zu Ende gegangenen Epoche ist also nach
wie vor Joseph
Roth oder Robert
Musil zu empfehlen. Zum europäischen Kolonialismus
kann man die Bücher des Portugiesen
António
Lobo Antunes ans Herz legen. Zum Leben in Deutschland vor und
nach der Wiedervereinigung Christoph Hein lesen. Und
schließlich erfährt man in Julian Barnes’
Roman "England, England" weit mehr über Englishness, Nation,
Globalisierung
und Kapitalismus wie aus so manchem wissenschaftlichen Werk zu diesem
Thema.
Die großen europäischen Romanciers haben im Laufe
der Jahrhunderte mit ihren Romanen und Erzählungen einen
faszinierenden imaginären Kosmos geschaffen. In diesem
einzigartigen Sprach-, Ideen- und Erfahrungsspeicher, ist - wie
Milan
Kundera meint - niemand im Besitz einer
letztgültigen Wahrheit, und jeder hat das Recht, verstanden zu
werden. Hier wird der Originalität des Denkens Platz gegeben
und dem einzelnen Individuum Achtung entgegengebracht. Insbesondere der
moderne Roman ist das Spielfeld für die Relativität
der Wirklichkeit und Wahrheit und sperrt sich gegen jegliches
doktrinäre Denken totalitärer Ideologien.
Wer europäisch denkt und fühlt, wird sich mit den
literarischen und künstlerischen Leistungen unserer nahen und
entfernten Nachbarn beschäftigen. Er wird sie als integrativen
Bestandteil einer vielfältigen gemeinsamen Kultur verstehen
und wertschätzen. Die EU-Programme zur Förderung von
Übersetzungen und zur Verbesserung der Mobilität von
Kunstschaffenden, die Einrichtung der Europäischen
Kulturhauptstadt und die Entwicklung europäischer
Geschichtsbücher: All das sind Versuche, diese unsere
Gemeinsamkeiten und Unterschiede kennen zu lernen und neu zu entdecken.
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die angloamerikanische Literatur erfreut sich in Europa, vor allem aber
in den deutschsprachigen Ländern besonderer Beliebtheit. Und
auch die englische Gegenwartsliteratur genießt sowohl beim
Lesepublikum als auch bei der Kritik hohes Ansehen. Daher hat mich der
Vorschlag der von mir für diesen Preis eingesetzten
Expertenjury, Julian Barnes den Österreichischen Staatpreis
für Europäische Literatur zuzuerkennen, besonders
gefreut. Denn die Bücher des frankophilen Engländers
haben spätestens seit seinem Roman "Flauberts Papagei" Mitte
der 1980er Jahre ihren Weg über den Ärmelkanal
gefunden und Hunderttausende Leserinnen und Leser in ganz Europa
begeistert und berührt.
Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays und
journalistische Arbeiten. Aber obwohl Julian Barnes in jedem dieser
Genres souverän unterschiedliche literarische Mittel und
Schreibweisen einsetzt, möchte ich ihn nicht in den
Essayisten, Erzähler und Romancier "Barnes"
auseinanderdividieren. Denn in allen seinen Werken verbindet sich das
Erzähltalent des erfahrenen Romanciers und die stilistische
Brillanz des genauen Beobachters mit dem Wissen des literarisch und
historisch Gebildeten. Egal ob Roman, Erzählung oder
literarischer Essay: Immer hat Julian Barnes der jeweiligen Gattung zu
neuem Glanz verholfen. Und immer ist er für seine Leser ein
Verführer geblieben, der neben seiner Intelligenz, seiner
Bildung und seiner literarischen Kunst über die wunderbare
Gabe verfügt, mit unübertroffener Leichtigkeit klug
und kurzweilig zu erzählen und mit sanfter Ironie gegen
Hochmut, Eitelkeit und Größenwahn aller Art zu
immunisieren.
Dear Julian Barnes, it is a great honour indeed both for the Republic
of Austria and for myself to have you and Ms. Kavanagh here with us in
Salzburg. It was my pleasure to meet you both last evening and I hope
that you have enjoyed the performance of the "Magic
Flute". I wish you and your wife a good time in our festival
city and I congratulate you on the award of the Austrian State Prize
for European Literature.
(Quelle: Bundeskanzleramt Österreich)