Carmen-Francesca Banciu: "Vaterflucht"

Verdrängen als Überlebensstrategie - 155 Seiten angst und bang


Zwei Jahre nach dem in deutscher Sprache verfassten Roman Vaterflucht erschien im Jahr 2000 Ein Land voller Helden als Übersetzung des rumänischen Ein Tag ohne Präsident. Der Originaltitel lässt einen direkteren Bezug zum dargestellten Geschehen herstellen, dem Machtwechsel in Rumänien nämlich, der Zeit unmittelbar davor und danach.

In Vaterflucht ist der Zeitrahmen weitläufiger; mit autobiografischer Schlagseite wird darin einerseits die fortschrittsgläubige Elterngeneration mit ihrem seltsame Blüten treibenden Ehrgeiz, den "Neuen Menschen" hervorzubringen, an den Pranger gestellt, andererseits die Ablehnung der aufokroyierten Ideale und Verhaltensmuster durch die Kinder beschrieben. Dass dabei mitunter etwas über das Ziel hinaus geschossen wird, ist wohl dem Rückstau an allzulange unterdrücktem Aufbegehren zuzuschreiben. Vaterflucht muss man als Produkt eines langen Prozesses ansehen, der mehr als nur eine Generation kollektiv sowohl zur Beichte als auch zur therapeutischen Selbstbetrachtung auffordert. Der überwiegend als Rückschau angelegte Roman thematisiert das Einzelschicksal einer unerwünschten Tochter und deren Befindlichkeit im zunehmend als dubios empfundenen Jubel- und Arbeitskollektiv vor dem spezifischen Hintergrund der Ereignisse in Rumänien, ungefähr ab der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Diese Tochter fährt mit ihrem siebenjährigen Sohn nach Jahren des selbstgewählten Exils zurück in ihre rumänische Heimat, um ihren Vater zu besuchen. Die Mutter ist längst verstorben, der Vater wirkt nicht mehr so bedrohlich und feindselig wie früher, und auch die politischen Verhältnisse haben sich geändert. Während der Bahnfahrt blickt die Ich-Erzählerin, und mit ihr der Leser, endlose 155 Seiten lang zurück auf Kindheits- und Jugenderlebnisse, die insgesamt ein bedrückendes Bild der rumänischen Zustände entstehen lassen. Sei es, dass der Vater, der kein Kind - und schon gar keine Tochter - wollte, aktiver Propagandist und Parteifunktionär war, bis ihn die Vorhaben seiner Tochter parteiintern in Ungnade fallen ließen, sei es, dass die vernachlässigte, unglückliche Mutter ständig unter entsetzlichen Kopfschmerzen litt, oder dass die Eltern sich demonstrativ in Verzicht zu Gunsten der "missratenen" Tochter übten. Zwischendurch kehrt regelmäßig das Motiv des bevorstehenden aufwühlenden Zusammentreffens mit dem Vater wieder.

In der Wohnsiedlung zeichnete sich, wie auch später in der Schule, das gegenseitige Bespitzeln und die damit verbundene Angst, unangenehm oder überhaupt aufzufallen, ab. Der allerorts beschworene Aufschwung wollte nie so recht einsetzen, die Verhältnisse für den einzelnen Menschen wurden nicht und nicht besser.
Die Ich-Erzählerin schrieb schon von klein auf Geschichten, die ihr immer wieder Erklärungsbedarf bescherten, weil ihre Ansichten und Denkweisen mehr waren als reine Reproduktionen der staatlich verordneten. Sie ging jedoch, vielen Widrigkeiten zum Trotz, und insofern gar nicht so anders als Heranwachsende andernorts auch, ihren Weg und musste infolgedessen zahlreiche Unannehmlichkeiten auf sich nehmen, die darin gipfelten, dass sie aufgrund einer geplanten Demonstration für ausgebeutete Bauern drei Monate lang tagtäglich von Mitarbeitern der Securitate verhört wurde. Im Verlauf dieser peinlichen Befragungen und Rechtfertigungen wurde ihr bewusst, dass es immer jemanden in ihrer Nähe gegeben haben musste, der ihrer Akte Vermerke, Protokolle und Dokumente zugetragen hat, denn der Geheimdienst war bestens über ihre Interessen, Handlungen und Beziehungen informiert. Aus für sich genommen wahrlich unergiebigen Details wie ihren brieflichen Auslandskontakten, der Tatsache, dass sie Kirchenmalerei studierte und Romane schrieb, wurden Verdächtigungen konstruiert, die ihr jede Hoffnung auf eine erträgliche Zukunft in Rumänien raubten und sie zu einem Selbstmordversuch trieben.

Den Wunsch der Autorin um Aufklärung und Klarheit in Ehren - dennoch scheint es, als habe sie nicht den entscheidenden Durchbruch zur unverschleierten Darstellung der sie so offenkundig schwer belastenden Vergangenheit gefunden, und als verstelle sie sich selbst den Blick auf die zumutbare Wahrheit. Eine Vaterflucht wurde konzipiert, eine Land- und Sprachflucht ist es letztendlich geworden. Offen bleibt ebenfalls die Frage, ob man tatsächlich die Schuld bzw. die Verantwortung für das innere Abstumpfen, die subjektiv empfundene zwischenmenschliche Kälte oder für die zahlreichen Fehlschläge im familiären Bereich einzig und allein dem politischen System zuschieben kann/darf/soll oder ob dergleichen nicht vielmehr dort weitverbreitet ist, wo Ignoranz und Oberflächlichkeit regieren - und die kleinste Einheit dafür ist die Seele des Einzelnen ...

Carmen-Francesca Banciu wurde im Jahre 1955 im rumänischen Lipova geboren, studierte Kirchenmalerei und Außenhandel und hatte in ihrer Heimat unter Publikationsverboten zu leiden. Seit 1991 lebt sie als freie Autorin in Berlin. Gewiss ist es der Schriftstellerin erster Roman in deutscher Sprache, und der gehetzte, atemlose Schreibstil setzt das Motiv der Vaterflucht recht trefflich um - freilich ist die Lektüre bisweilen mühsam! Amputierte, widerborstige Sätze, die mehr roh gestammelte Assoziationsketten als Erzählfluss sind; Punkte und Beistriche verdrängen alle anderen Satzzeichen, was ein diffuses Gefühl des Unwillens hervorrufen mag. Aber womöglich soll sich der Leser gar nicht bequem-nostalgisch in diesen Roman kuscheln, sondern hautnah mitleiden, sich hineinsteigern (lassen)?

(Felix)


Carmen-Francesca Banciu: "Vaterflucht"
Verlag Volk & Welt, 1998. 155 Seiten.
ISBN 3-353-01126-9. 
ca. EUR 14,30.

... zur Rezension von "Berlin ist mein Paris" ...