Kristín Marja Baldursdóttir: "Die Eismalerin"
Kristín
Marja Baldursdóttir, eine der bekanntesten Journalistinnen
und Schriftstellerinnen Islands, führt uns in ihrem vierten
Roman zurück in das Island zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Steinunn Olafsdóttir lebt, jung verwitwet, mit ihren sechs
Kindern im Süden dieser für uns Westeuropäer
nach wie vor fremden Insel. Sie ist eine selbstbewusste und
intelligente Frau, die schon ein zartes Bewusstsein entwickelt hat
für die Rechte und die Emanzipation der Frauen, von den
entsprechenden Bewegungen in ihrem Land und auf dem
europäischen Kontinent weiß, und sich immer wieder
darüber zu informieren sucht. So ist ihr auch vollkommen klar,
dassß ihre Kinder, besonders aber ihre Töchter, nur
dann eine wirkliche Chance auf ein eigenständiges,
selbstbewusstes und selbstbestimmtes Leben haben werden, wenn sie die
entsprechende Bildung besitzen.
Deshalb ruht Steinunn Olafsdóttir nicht, bis sie das
nötige Geld zusammen hat, in die kleine Stadt Akureyi im
Norden Islands zu ziehen, damit ihre Kinder dort die Schule besuchen
können und in der dortigen Fischindustrie Arbeit finden.
Obwohl Steinunn nicht die Hauptfigur dieses Buches ist, beeindruckt
ihre Charakterisierung. Es ist immer wieder überraschend und
wohltuend zu lesen, wie doch überall damals, auch unter
schlechten Bedingungen, Menschen versucht haben, in ein besseres,
selbstbestimmtes Leben aufzubrechen und sich nicht von zahlreichen
widrigen Bedingungen abhalten ließen.
Wie die Autorin die Arbeit der Menschen in den Fischfabriken schildert,
zeichnet ein eindrucksvolles sozialgeschichtliches Bild von Island um
1910.
Steinunn arbeitet hart, und es gelingt ihr tatsächlich im
Laufe der Jahre, allen ihren Kindern zu einer ordentlichen Ausbildung
und zu einem selbstständigen Leben zu verhelfen.
Das Talent ihrer Tochter Karitas, Hauptfigur dieses wunderbaren Romans,
erkennt sie bald und versucht es zu fördern. Karitas zeichnet
gern und beobachtet eines Tages draußen im Feld eine fremde
Frau an einer Staffelei. Sie ist beeindruckt, doch am nächsten
Tag ist die Frau verschwunden.
Diese geheimnisvolle "Eis-Malerin" wird es sein, die Karitas
später ein fünfjähriges Studium an der
Kunsthochschule in
Kopenhagen finanzieren wird, weil sie, als sie die
ersten Bilder von Karitas sieht, ihr
außergewöhnliches Talent erkennt und
fördern will.
Stark sind die Bindungen und die Traditionen, großen Druck
muss Karitas aushalten von ihren Schwestern, die sie
beschwören, daheim zu bleiben, sich um die Mutter zu
kümmern und einem "ordentlichen" Broterwerb nachzugehen. Doch
Karitas geht. Über diese fünfjährige
Studienzeit in Kopenhagen erfahren wir später nur, dass die
Zeit hart war, weil sie für ihre Kost und Logis abends schwer
und lange arbeiten musste.
In der Zwischenzeit geht das Leben auf der Insel weiter, und es ist
hart, auch weil der Erste Weltkrieg zu vielen
Versorgungsengpässen führt. Als Karitas 1923 aus
Kopenhagen nach Island zurückkehrt, träumt sie davon,
ein eigenes Atelier zu eröffnen. Sie hat einen individuellen
Stil entwickelt, der im Buch nur ansatzweise beschrieben wird, der aber
schon vielen Leuten positiv aufgefallen ist. Von einer ersten
Ausstellung ist die Rede, die ihre Gönnerin Eugenia, die sie
einst im Feld malen sah, organisieren will. Doch zunächst muss
Karitas Geld verdienen. Und sie macht es wie ihre Mutter und wie all
die anderen Frauen damals: sie arbeitet in der Fischfabrik. Dort, hoch
oben im Norden der Insel, trifft sie auf einen Mann, der ihr Leben
verändern wird. Sie schläft schlussendlich mit
Sigmar, dem großen, gutaussehenden Fischer, der
zunächst von einem eigenen Boot und dann irgendwann von einer
eigenen großen Fangflotte träumt.
Karitas wird schwanger, Sigmar fährt wieder zur See, und aus
ist es mit den Träumen von der Künstlerexistenz
in Reykjavik.
Karitas kommt bei Verwandten unter, die ihr zusammen mit den
anderen Menschen im Dorf so gut es geht unter die Arme greifen. Die
Schilderung dieser gegenseitigen Hilfe, bei der auch die
Männer ihren Platz haben, gehört für mich zu
den stärksten Seiten dieses Buches. Obwohl die Menschen hart
arbeiten müssen, haben sie einen Sinn für das
Wesentliche im Leben, und auch das Lachen und Feiern hat seinen
angestammten Platz.
Karitas ist mit ihrer Art und ihren Bildern natürlich eine
Exotin im Dorf, doch niemand lacht über sie. Im Gegenteil: sie
genießt manche Privilegien und Unterstützung und
malt weiter, nachts, wenn das Kind schläft. Mit die jeweiligen
Kapitel einleitenden Bildbeschreibungen vermittelt die Autorin dem
Leser einen plastischen Eindruck von Karitas' Kunst.
Irgendwann kommt Sigmar, mittlerweile Eigentümer eines
großen Fangschiffes, nicht mehr zurück, und Karitas
richtet sich in ihrem neuen Leben ein, so gut es geht und zieht ihren
Jungen groß. Doch nach vielen, langen Jahren, 1939, steht
Sigmar plötzlich als gemachter Mann vor der Tür und
will sie mitnehmen nach
Italien, wo er all die Zeit lebte. Karitas muss
eine Entscheidung treffen ...
Kristín Marja Baldursdóttir hat einen Roman
geschrieben, für den sie ausführlich recherchierte.
"Die Eismalerin" ist ein Roman über Island, ein
Künstlerroman und ein Buch über den Kampf von Frauen
um eine eigene Existenz. Ein Buch aber auch über eine Zeit, in
der die Gemeinschaft von Menschen in den Dörfern noch
zählte und sie auch durch schwerste Lebenskrisen tragen konnte.
Ich kann das Buch nur ausdrücklich empfehlen.
(Winfried Stanzick; 10/2006)
Kristín
Marja Baldursdóttir: "Die Eismalerin"
Aus dem Isländischen von Coletta Bürling.
Krüger Verlag, 2006. 461 Seiten.
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Weitere
Bücher der Autorin (Auswahl):
"Hinter fremden Türen"
Als Kolfinna Karlsdóttir mit 29 Jahren plötzlich
arbeitslos wird, ihre langjährige Beziehung in die
Brüche geht, sie nur mit ihrer Waschmaschine beladen wieder zu
ihrer Mutter ziehen muss und obendrein noch von allen Seiten zu
hören bekommt, was sie alles falsch macht, stellt sie sich die
Frage aller Fragen: Wie bekomme ich ein schönes Leben? Bei
ihrer Arbeit als Putzfrau trifft sie Leute, von deren Lebensstil,
Reichtum
und Bildung sie fasziniert ist. Nur - wie kommt man dahin?
Und: Führen diese Leute tatsächlich ein
schönes Leben?
Kristín Marja Baldursdóttir hat einen humorvollen
und tiefgründigen Roman geschrieben über eine junge
Frau, die auf der Suche nach dem Glück erst sich selbst finden
muss. (Krüger)
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"Kühl graut der Morgen"
Thórsteina Thórsdóttir ist eine
äußerst attraktive Lehrerin an einer
isländischen Schule. Bei ihren Schülern ist sie wegen
ihrer Strenge und Scharfzüngigkeit gefürchtet. Ihre
Kolleginnen schwanken zwischen Faszination und Neid. Doch als ein
junger Mathematiklehrer an ihre Schule versetzt wird, ist sie
gezwungen, noch einmal ganz andere Saiten aufzuziehen ... (Fischer)
Buch bei
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