Esmahan Aykol: "Goodbye Istanbul"
Erinnern
ist gut, Erzählen noch viel besser
Ich wollte vermeiden, dass meine schönen Erinnerungen
gemeinsam mit den schlechten im Abfallkorb meines
Gedächtnisses landeten, aber wie ich das eine vom anderen
trennen sollte, wusste ich nicht. (Seite 183)
Ece ist etwa 25 Jahre alt und lebte bis vor kurzem in
Istanbul.
Aus zwei sehr persönlichen Gründen wird sie zur
Migrantin: Die angehende Studentin möchte die fruchtlose Liebe
zu einem verheirateten Mann vergessen und ihrem tyrannischen Vater
entkommen. Mit vagen Hoffnungen übersiedelt sie zur Cousine
nach London und muss sehr bald feststellen, dass die Weltstadt London
Migranten zwar braucht, aber niemand andere als wirtschaftliche
Interessen an den Menschen aus aller Welt hat.
Beim Tellerwaschen in einem schmuddeligen Restaurant und in
Gesprächen mit Kollegen und ihrer Cousine entdeckt sie die
Macht der Erinnerungen. Mit Hilfe ihrer Erzählkraft spannt sie
sehr lebendige Fäden zur Lebensgeschichte ihres verstorbenen
Großvaters, zu Erzählungen und Legenden aus der
Geschichte ihrer vergessenen armenischen Vorfahren. Ohne das materielle
und geistige Erbe des Großvaters, er war Goldschmied im Bazar
von Istanbul, hätte Ece weder die Flucht vor der Familie
geschafft noch ihre unglückliche Beziehung
überwunden. Auch der geliebte Opa war Flüchtling und
Migrant; als einziger Überlebender einer armenischen Familie
musste er Ostanatolien verlassen und in Istanbul eine neue Heimat
finden.
Der Großvater und seine geistige Welt, sein lebenslanges Grübeln über den Sinn
des grausamen Schicksals seiner Vorfahren, verbindet die ungleichen Cousinen Ece
und Aylin. Nur dann, wenn Ece der anfangs unwilligen Aylin die Geschichten ihres
armenischen Opas erzählt, fühlen sie sich verwandt, um gleich darauf wieder zu
einer bloßen Notgemeinschaft zu werden. Denn niemand kann wirklich verstehen,
wie es zur Verfolgung an den
Armeniern
kam, denen es "schlechter als Straßenhunden" erging, denn
"die bringen sich wenigstens nicht gegenseitig um". "Dass du Menschen
mit Hunden vergleichst, das gefällt mir immer noch nicht"
(Seite 278), beendet Aylin das aufkommende
Verwandtschaftsgefühl.
Die Deutschtürkin Esmahan Aykol schrieb mit "Goodbye Istanbul"
einen scharfsinnigen Roman über brennende Fragen der globalen
Migration. Die erzählten Schicksale von Ece und ihrem
Großvater erlauben einen profunden Blick auf Menschen mit
reichem kulturellem Erbe, das sich nicht auf den Geruch
innerstädtischer Kebabbuden reduzieren lässt.
(Wolfgang Moser; 06/2007)
Esmahan
Aykol: "Goodbye Istanbul"
(Originaltitel "Savrulanlar")
Aus dem Türkischen von Antje Bauer.
Diogenes, 2007. 355 Seiten.
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