Sergei Awerinzew: "Die fremde Sprache sei mir eine Hülle ..."
Essays und Vorträge
Russland und Westeuropa im
Dialog
Der 1937 in Moskau geborene und 2004 in Wien verstorbene
bedeutende Geisteswissenschaftler - man möchte von einem Universalgelehrten
sprechen - Sergei Awerinzew fühlte sich stets seiner russischen Heimat und ihren
großen Denkern, aber auch dem deutschsprachigen Kulturkreis und seiner
Wahlheimat Wien (ab 1994) verbunden. In den vorliegenden Essays und Vorträgen
findet der Leser diese Verbundenheit, das Bestreben, aus dem Reichtum beider
Kulturen zu schöpfen und die gemeinsamen über die trennenden Elemente zu
stellen, immer wieder vor.
Dem westeuropäischen Leser erschließt sich
dank dieser Texte Russland mit seiner Geschichte, seiner kulturellen und
religiösen Tradition auf eine kompakte und von breit gefächertem Wissen geprägte
Weise. Aber auch die Geschichte sowohl der anderen slawischen Staaten als auch
Westeuropas ist dem Autor gründlich vertraut, sodass er Parallelen und
Unterschiede kompetent und treffend beobachten, herleiten und kommentieren
kann.
In den Essays und Vorträgen herrschen vor allem
folgende Themenkomplexe vor: Russland als ein schwieriges Vaterland für Denker
und Dichter, die sich gern am aufgeklärten Frankreich orientierten; die Herkunft
der russisch-orthodoxen Kirche aus der griechischen, ihr Bruch mit dem
Katholizismus und die
Annäherungen
nicht zuletzt durch bedeutende Denker vor allem von russischer Seite; der
Werteverfall nach der "Wende" und die Instrumentalisierung der orthodoxen Kirche
durch Persönlichkeiten des alten Regimes; das Vakuum nach dem Totalitarismus in
diesem Zusammenhang und bezüglich der zwischenmenschlichen Solidarität; die
Probleme des Westens durch die Abwertung des Christentums und Möglichkeiten, wie
sich eine europäische Christenheit gestalten ließe. Wesentliches,
wiederkehrendes "Leitmotiv" ist aber immer wieder der mit westeuropäischer,
oftmals deutschsprachiger Dichtung und dem ihr zugrunde liegenden Gedankengut
befasste russische Dichter - wie Ossip Mandelschtam, der den heute hier
ebenfalls vergessenen Ewald von Kleist in Russland einführen wollte.
Sehr interessant erscheinen Awerinzews Gedanken zum modernen Zeitgeist in Russland,
aber auch in Westeuropa, insbesondere, wenn er die Humorlosigkeit des Zeitgeistes
aufgreift oder auch die
Globalisierung:
Die erwähnten profunden Kenntnisse, gepaart mit ausreichender Distanz, führen
zu bemerkenswert objektiver Kritikfähigkeit, die sich nie von oben herab äußert,
sondern Denkanstöße liefern soll.
Wer sich je von Russlands Geschichte, von seiner Literatur, Kultur und für den
Westeuropäer so erstaunlich
innigen
und mystischen Religiosität hat verzaubern lassen, findet hier eine Fülle
von Begründungen für ansonsten schwer verständliche Phänomene und begreift vor
allem, dass West- und Osteuropa tiefe gemeinsame Wurzeln besitzen, auf die sie
sich eigentlich leicht zurückbesinnen könnten und auch sollten. Die Einflüsse
von Ost und West auf die Dichtung des jeweils anderen Teils Europas werden anhand
des von Awerinzew vermittelten Hintergrundwissens transparent und weisen darauf
hin, dass Russland sich mit wenigen Ausnahmen unter Fremdherrschaft und Diktatur
immer als Teil Europas begriffen hat - zu Recht, wie Awerinzew nachweist. Die
verbindende Rolle der Religion, vielleicht das zentrale Thema der Texte und
des Buchs, unterstreicht diese Einheit und bietet Chancen, dass die durch den
Eisernen Vorhang scheinbar endgültig getrennten Teile Europas sich einander
wieder annähern können, sofern die Religion aufrichtig ausgeübt wird und ihren
Platz im Leben der europäischen Völker (wieder) findet.
Awerinzews Stil ist natürlich von seinem wissenschaftlichen
Hintergrund geprägt, dabei aber sehr gut verständlich und somit für ein breites
Publikum bestens geeignet, sofern dieses etwas Erfahrung mit russischer und
deutschsprachiger Literatur und Philosophie besitzt. Trocken wirken die Essays
und Vorträge nie, im Gegenteil, die offen präsentierten persönlichen, aber stets
wohl begründeten Überzeugungen des Autors werden lebendig und durchaus packend
präsentiert.
Eines jener raren Sachbücher, deren Lektüre nicht nur Fakten
vermittelt, sondern auch in menschlicher, persönlicher Hinsicht eine
Bereicherung darstellt!
(Regina Károlyi; 05/2006)
Sergei Awerinzew: "Die fremde Sprache sei mir eine
Hülle ..."
Verlagshaus Pereprava, 2006.
206 Seiten.
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Sergei Sergejewitsch Awerinzew wurde am 10. Dezember 1937 in Moskau geboren. Seine Eltern entstammten der vorrevolutionären russischen Intelligenzija und waren bestrebt, ihrem Sohn diese Traditionen und dieses kulturelle Erbe zu vermitteln. Awerinzew studierte Klassische Philologie an der Universität Moskau und promovierte mit der Schrift "Plutarch und die antike Biografie". Bis 1992 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am "Institut für Geschichte und Theorie der Kunst" und am "Institut für Weltliteratur" in Moskau. Seit der Perestroika bekam Awerinzew mehrere Gastprofessuren im Ausland. 2003 wurde er zum Wirklichen Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften gewählt. Der russische Literatur-, Kultur- und Religionswissenschaftler, Philosoph, Dichter und Übersetzer Sergei Sergejewitsch Awerinzew gilt als einer der hervorragendsten Gelehrten unserer Zeit. Von 1994 bis 2003 war er Ordinarius am Institut für Slawistik der Universität Wien.
Ergänzende Empfehlung:
Gabriele
Krone-Schmalz: "Was passiert in Rußland?"
Die
deutsch-russischen Beziehungen sind an einem Tiefpunkt angelangt. In
der aktuellen Berichterstattung über die Großmacht
im Osten werden Feindbilder aus der Zeit des
Kalten Krieges aus der
Versenkung geholt. Doch ein differenzierter Blickwinkel ist
nötig, um das heutige Russland verstehbar zu machen
und die Gefahr neuer Missverständnisse und Konfrontationen
abwenden zu können.
Gabriele Krone-Schmalz, die als ARD-Korrespondentin die Jahre des
Umbruchs in der Sowjetunion miterlebt und die darauffolgende
Entwicklung Russlands genau beobachtet hat, wendet sich gegen das
verzerrte Russlandbild. Sie stellt sich der Herausforderung, bewusste
und unbewusste Verfälschungen in unserer Wahrnehmung
aufzuzeigen. Dafür zeichnet sie die Entwicklungsprozesse an
den russischen Brennpunkten nach: den Aufbau der Zivilgesellschaft, der
Parteienlandschaft, der wirtschaftlichen Stabilität auf der
Grundlage einer neuen Energiepolitik. Und sie stellt sich auch den
Problembereichen, wie den Themen Pressefreiheit und Tschetschenienkrieg
– denn Verständnis und deutliche kritische Worte
schließen sich nicht aus.
Das neue Buch der Russlandexpertin ist ein Appell für eine
Streitkultur jenseits von Reizworten und Klischees und gegen eine
Bewertung allein nach westlichen Maßstäben.
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Leseprobe:
Die
Solidarität in dem verfemten Gott:
Erfahrungen der Sowjetjahre als Mahnung
für Gegenwart und Zukunft
(...) Ich wurde in einer Gelehrtenfamilie geboren, die zwar weder kommunistisch
noch atheistisch gesinnt war, aber viel vom Agnostizismus des vorigen Jahrhunderts,
wenn nicht gerade vom Deismus der Aufklärungszeit behalten hat. Meine erste
Kinderfrage: "Was ist Gott?", wurde von meiner Mutter auf eine durch und durch
deistische Art beantwortet: "Das höchste Wesen" (vgl. "Etre Suprème")! Darum
hatte auch ich in meiner Kindheit und Jugend zwar religiöses Interesse und ziemlich
verschwommene religiöse Vorstellungen, aber keine kirchliche Praxis; ich war
eben kein "praktizierender" Christ. Zur gleichen Zeit aber verschlang ich eine
Unmenge religionsphilosophischer Literatur, die ich bei Freunden oder, durch
ein Versehen der Behörden, in den Moskauer Bibliotheken und Antiquariatsbuchhandlungen
aufzufinden imstande war (die Antiquariatsbücher waren bei uns damals sagenhaft
billig, was als ein angenehmer Nebeneffekt einer unangenehmen kulturellen Situation
zu erkennen ist). Natürlich las ich viele orthodoxe Russen; was ich aber heute
hervorheben möchte, ist die Tatsache, dass zwischen den Büchern, denen ich meine
Bekehrung zur orthodoxen Praxis des sakramentalen und solidarischen Gemeindelebens
verdanke, es auch katholische, evangelischlutherische, anglikanische Werke gab,
auch die Werke des großen reformierten Theologen Karl Barth. Mit Begeisterung
las ich Romano Guardini, Erich Przywara, Hans Urs von Balthasar, auch Paul Tillich
und Dietrich Bonhoeffer, aber auch ein
schlichtes, in der damaligen DDR erschienenes evangelisch-lutherisches Lehrbuch
der praktischen Theologie. Mehr noch: unter den Denkern, die mir damals meinen
Weg zur orthodoxen Kirche auf eine konkrete Weise gewiesen und erleichtert haben,
muss ich auch den großen Deuter der jüdischen Tradition
Martin Buber
nennen: natürlich das Buch "Ich und Du", aber vorerst wohl seine Betrachtungen
über die "Leiblichkeit" der Bibel und über das Gottesvolk als "Leib". Es war
mir nützlich als Heilmittel gegen jenen deistisch geprägten Spiritualismus,
der gerade die Leiblichkeit von Sakrament und Gemeinde verachtet. Wenn schon
die Schrift so leiblich erscheint, wie Martin Buber es zeigt, dann lohnt es
sich wohl, durchaus leiblich das sakramentale Gemeindeleben zu teilen und zu
einer Pfarrei zu gehören! So hat mir Martin Bubers "Leiblichkeit" geholfen,
das eucharistische "das ist Mein Leib" zu verstehen. Aber auch die bubersche
Kritik der christlichen "Glaubensweise", die scharf genug ist, aber immer in
den Grenzen der intellektuellen Redlichkeit bleibt und darum kein Gift verspritzt,
war mir eine rechtzeitige Mahnung, dass der Glaube, auch der christliche Glaube,
als biblische "emuna", kein bloßes Für-Wahr- Halten, sondern vor allem Treue
zum Geglaubten sein soll. Die Leiblichkeit des Gotteswortes und des Gottesvolkes,
die Leiblichkeit der verfolgten und verachteten Kirche erschien also als Raum
der Treue, die auch auf eine leibliche Weise bezeugt sein soll.
So las
ich Buber; ein Freund hat mir damals den Spaßnamen "Büberle" gegeben. Zu
derselben Zeit aber, da jene Wende zur Leiblichkeit der Kirche in mir endlich
reif wurde, suchte und fand ein junger, mir befreundeter Jude seinen Weg zum
Glauben seiner Väter; und wir haben uns die Geheimnisse unserer zweifachen
Bekehrung, zur Kirche bei mir, zur Synagoge bei ihm, gegenseitig anvertraut und
fühlten uns einander wirklich nah. Ich erinnere mich an eine Stunde am Tisch
seines ungläubig gebliebenen Vaters: Moskauer Intellektuelle, die alle gar keine
konkreten Erfahrungen des Glaubens besaßen, plauderten in etwas snobistischer
und selbstsicherer Weise über religionsphilosophische Themen, wir beide aber
schwiegen bei dem Geplauder und sahen einander an mit demselben Gedanken: Du und
ich, wir wissen "de usu", worum es geht, und darum schweigen wir... Einmal
besuchten wir ihn, meine eben damals zur kirchlichen Praxis bekehrte Frau und
ich, bei einem koscheren Mahl, und waren tief beeindruckt von der Würde des
Ritus, jener Würde, die uns verständlich und vernehmbar erschien nicht trotz der
Tatsache, dass wir schon beide praktizierende orthodoxe Christen waren, sondern
eben deshalb. Natürlich auch deshalb, dass alles in einem zum gegenseitigen
Verständnis kraftvoll antreibenden Kontext geschah: Es blieb immer noch nicht
sicher, nicht gratis, es kostete mindestens etwas, ein praktizierender Jude und
ein praktizierender Christ zu sein; der Jargon der Sowjetpresse bei den
antisemitischen und den antichristlichen Insinuationen war fast bis zum
Verwechseln ähnlich. Desto feierlicher und freudiger ergriff und vereinte uns
das Gefühl: dort draußen saust die sowjetische Welt, hier aber wird der Name des
Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs angerufen. Viele, viele Jahre später, als ich
am Ende der Perestroika-Zeit in Oxford zusammen mit meiner Frau weilen durfte,
hat uns der Sohn des Dichters
Boris Pasternak eingeladen, mit ihm zusammen seine
britischen Verwandten zu besuchen. Unterwegs sagte er etwas schüchtern: "Ich
weiß nicht, wie Sie es annehmen werden: vor dem Mahl beten meine Verwandten nach
jüdischem Ritus." Wir entgegneten unisono: "Uns wird es eine reine Freude sein,
zu lauschen, wie der Name Gottes angerufen wird. Wir haben vielen Mahlzeiten
beigewohnt, in der Sowjetunion und anderswo, bei denen es leider weggelassen
wurde." Jetzt ist alles so anders geworden. Es ist mir ebenso schwierig oder
noch schwieriger, die Erfahrung meiner Generation den Jüngeren in meinem
Russland mitzuteilen als einem ausländischen Hörerkreis. An Gott zu glauben,
eine Kirche zu besuchen ist gefahrlos, zugleich aber innerlich schwieriger
geworden. Statt der Verfolgungen droht uns die Gefahr einer plumpen, ungereimten
Parodie auf das orthodoxe Establishment im spätzaristischen Stil. Gerade die
Ex-Kommunisten, also die Leute, die kein Verständnis für die Solidarität von
damals hatten und gerade als Verfolger agierten, treten heute als Zeloten der
Orthodoxie hervor, als Verfechter eines pseudoorthodoxen Isolationismus, der
nach ihren Plänen den kommunistischen Isolationismus ersetzen soll. Ich kenne
gut eine Frau
in Sankt
Petersburg: ihr Berufsleben an einem Institut war unbequem ob ihrer
Kirchentreue, die Parteibosse des Instituts schikanierten sie reichlich. Und
dann kommt die Wende; sie arbeitet viel für die Kirche, zugleich hilft sie bei
den Kontakten der Sankt Petersburger Orthodoxen mit der weltbekannten
Benediktinerabtei Chevetogne. Aber ihre Parteibosse bleiben Bosse nach wie vor;
und einer, der an den Schikanen von damals gern teilnahm, lässt sie zu ihm
kommen und fragt sie im Tonfall eines Verhörs: "Sind Sie orthodox genug?" Sie
entgegnet: "Mit welchem Recht stellen Sie, gerade Sie, eine solche Frage? Sind
Sie denn mindestens getauft?" Und sie bekommt die Antwort: "Ob man getauft ist,
hat keine Bedeutung. Aber sind Sie orthodox genug?" Ein russischer General, der
in der Politik sehr aktiv sich zeigt, hat neulich gesagt: "Selbstverständlich
bin ich selbst ein Atheist; aber die politische Zukunft Russlands ist untrennbar
mit der Orthodoxie verbunden." Und etwas später: "Wir sind Russen, Gott mit
uns!" Dieses "Gott mit uns" eines Atheisten hat offenkundig mit der
pseudo-frommen Phraseologie des Dritten Reichs mehr zu tun als mit dem
biblischen "Immanuel". Gerade so lobpriesen am Anfang des Jahrhunderts die
Anführer der ultranationalistischen Action Française, die selbst Atheisten
waren, "la belle ordre catholique" als einen Nationalwert der Franzosen. Die
Geschichte wiederholt sich. Aber damals zeigte der Vatikan sich weise genug, um
sich von der Action Française zu distanzieren und zu erklären, dass die "belle
ordre catholique" eben nicht katholisch sei. Ebenso hat die "Orthodoxie", die
durch den atheistischen General und seinen ex-kommunistischen Gesinnungsgenossen
gepredigt wird, mit dem orthodoxen Glauben der russischen Märtyrer und Bekenner
nichts Gemeinsames. Die grotesken Züge dieser Imitation mahnen uns an die
Wahrheit, die zu teuer erkauft wurde, um heute vergessen zu sein. Dank der
Grenzsituation, welche die unzähligen Opfer unserer Vorfahren im Glauben
gefordert hatte, haben wir einmal untrüglich erkannt: die Distanz zwischen den
verschiedenen Konfessionen und vielleicht auch Religionen, wenigstens den
monotheistisch-abrahamitischen, ist nicht so definitiv und absolut wie eine
andere Trennung, die quer durch alle Konfessionen und Religionen geht - zwischen
denen, die ihren Glauben als das für sie wirklich Primäre betrachten und ihn
folglich zu leben versuchen, und denen, die aus ihrer Religion eine
instrumentale und manipulierbare Ideologie für den taktischen Gebrauch, z. B.
einem nationalen Symbol machen wollen. Heterogene Zielsetzungen entstellen ja
immer den Sinn der Glaubensbotschaft. "Ein ungläubiger Totalitarist", hat Elie
Wiesel einmal gesagt, "begnügt sich damit, dass er die Menschen versklavt, aber
die Ambitionen eines gläubigen Totalitaristen gehen höher: Er will Gott selbst
zum Sklaven machen." Es ist wohl die extremste, die letzte Blasphemie, der
unheilbare Verrat. Im
Glauben aber geht es um "emunah", um Treue. Nochmals, die
Grenze zwischen den Treuen, den "fideles", und den Treuebrüchigen geht quer
durch alle Konfessionen. Ich habe schon den russischen orthodoxen Philosophen
Lew Karsawin erwähnt, der gegen den Katholizismus polemisierte und doch im GULAG
seine letzte Kommunion aus den Händen eines katholischen Priesters empfing;
warum aber hat er so getan? Im Lager, wo Karsawin gestorben ist, gab es einen
orthodoxen Priester, der aber als
Verräter und Kollaborateur galt. So geschah
die Entscheidung Karsawins: Nicht der Konfession nach, nicht zwischen einem
orthodoxen und einem katholischen Priester, sondern zwischen einem, der treu
geblieben war, und einem, der sich als untreu erwiesen hatte. Ich versuche
nicht, gerade dieser praktischen Entscheidung eines Sterbenden absoluten Wert zu
geben, schon darum, weil der Verrat dieses armseligen orthodoxen Priesters, auch
eines Verhafteten, eine Untat der Schwäche war, mit der zynischen Kälte der oben
erwähnten Ideologie nicht vergleichbar, und weil der Glaube an die Kirche, der
durch ein Schauspiel der Schwäche erschüttert wird, es eben kaum verdient,
Glaube zu heißen. Aber die unmittelbare erfahrungsgemäße Erkenntnis, dass der
Abstand zwischen Treue und Untreue wesentlicher ist als die konfessionelle
Trennung, hat wohl eine Bedeutung, welche die rein situativen Grenzen
transzendiert. (...)