Wladimir Arsenjew: "Der Taigajäger Dersu Usala"


"Früher hatte ich geglaubt, der Egoismus sei eine Grundeigenschaft der unzivilisierten Völker, während das Gefühl der Nächstenliebe und Rücksicht auf fremde Interessen nur den Europäern eigen sei. Hatte ich mich da nicht geirrt?" (Wladimir Arsenjew)

"Gehen und mit dem Kopf wackeln. Augen haben und doch nichts sehen und nichts verstehen. So leben die Leute in der Stadt. Müssen keinen Hirsch suchen. Wenn sie essen, dann kaufen sie. Wenn sie allein in den Bergen leben, sterben sie bald." (Dersu Usala)

Dieses Buch versammelt einen Teil der Aufzeichnungen Wladimir Arsenjews, die dieser im Verlauf mehrerer Forschungsexpeditionen in bis dahin unerforschte entlegene Gebiete ab dem Jahr 1902 über viele Jahre hinweg angefertigt hat.

Das Bemerkenswerte an diesen spannenden und abenteuerlichen Aufzeichnungen ist die immense Vielfalt an festgehaltenen Beobachtungen und Erfahrungen, ob diese die Flora und Fauna, das Wetter, die Bodenverhältnisse oder die Lebensumstände der Einheimischen und deren Sprachen betreffen: Arsenjew, Geograf und Offizier des Zaren, sowohl mit untrüglichem Gespür für die Einzigartigkeit einer Welt, deren Untergang durch den Bau der Transsibirischen Eisenbahn besiegelt war, als auch mit erzählerischem Talent ausgestattet, hielt penibel und in angenehm lesbarer Form die Geschehnisse und Eindrücke fest, was sein Werk mit kraftvoller Dichte erfüllt.

Im Verlauf der ersten Expedition erkundete Arsenjews Trupp das Gebiet von Schkotowo und die Pässe des Dadianshan-Gebirges (zwischen Russland und China), und der Forscher lernte jenen Mann kennen, mit dem ihn fortan eine bis zum Tod des Freundes währende besondere Kameradschaft verbinden sollte: Dersu Usala, einen fabelhaft an das Leben unter freiem Himmel angepassten 53-jährigen Golden, der einst Frau und Kinder durch eine Epidemie verloren hatte und seither als Jäger durch die Weiten der Taiga zog.

Dersu Usala, der ausgezeichnete Fährtenleser und Schütze, wurde Wladimir Arsenjews ideenreicher Helfer in brenzligen Situationen und interessanter Gesprächspartner, dessen Lebensweisheit und Sichtweisen Arsenjew harmonisch in seine Erzählungen eingeflochten hat, was dem Leser die Taiga in all ihren Facetten näher bringt. Beispielsweise sprach Dersu Usala mit den Tieren, hatte eigene Rituale und war ein wahrer Tausendsassa, was die richtige Einschätzung der Verhaltensweisen von Tieren und von Wettervorzeichen sowie das Überleben unter für Arsenjew auf den ersten Blick aussichtslosen Bedingungen anbelangte. Für den Golden war die Natur an sich beseelt, alle Dinge und Lebewesen sah er miteinander in Zusammenhang und Wechselwirkung, was seine schlichten, sachlichen Beurteilungen zusätzlich verfeinerte.

Dersu Usala begleitete die Truppe auf den folgenden Expeditionen, wobei er Arsenjew mehrfach das Leben rettete. Die exakten Schilderungen von entbehrungsreichen Fußmärschen bei tiefwinterlichen Temperaturen, Schneestürmen, Waldbränden, sintflutartigen Regenfällen, Jagden, bedrohlichen Begegnungen mit Raubtieren, z. B. mit Bären und Tigern, vom Zurandekommen in Extremsituationen, von der Gastfreundschaft der in den Weiten der Region verstreut lebenden Menschen (aber auch von gefährlichen Sonderlingen, um die man besser einen Bogen machte), vom bereits damals feststellbaren Raubbau an den Gaben der Natur, von den Geheimnissen zwischen Himmel und Erde, lassen einprägsame Bilder vor dem geistigen Auge entstehen und - in gewissem Maß - Abenteuersehnsucht aufkeimen.

Als Dersu Usala im Alter von 58 Jahren merklich an Sehkraft verlor und sein Überleben als umherziehender Jäger zweifelhaft schien, nahm Arsenjew seinen langjährigen Freund bei sich in der Stadt Chabarowsk auf, doch litt der die Freiheit gewohnte Golde in dieser Umgebung, und es kam - nach einigen vorhersehbaren Turbulenzen, welche der Aufenthalt eines Jägers in der Stadt mit sich bringt, wie es kommen musste: Arsenjew ließ Dersu Usala schweren Herzens ziehen. Der Taigajäger wurde wenig später des Nachts beraubt und ermordet. Seine Grabstelle fiel bald danach den Bauarbeiten im Zuge der Stadtausweitung zum Opfer.

Arsenjews großartiges Buch "Der Taigajäger Dersu Usala" wurde 1975 von Akira Kurosawa verfilmt und mit dem "Academy Award" für den besten ausländischen Film ausgezeichnet.

(kre)


Wladimir Arsenjew: "Der Taigajäger Dersu Usala"
Aus dem Russischen von Gisela Churs.
Unionsverlag, 2009.
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Wladimir Klawdijewitsch Arsenjew wurde am 10. September 1872 in St. Petersburg geboren. Er erhielt eine militärische Ausbildung an der dortigen Infanterie-Kadettenschule, wo er sich schon bald für den Fernen Osten zu begeistern begann. Zunächst betrieb er wissenschaftliche Studien an Außenposten in Russland und Polen, bis es ihm gelang, 1900 nach Wladiwostok versetzt zu werden; schließlich ließ er sich in Chabarowsk nieder.
Als Offizier der zaristischen Armee unternahm er zwischen 1902 bis zu seinem Tod 1930 zwölf große Expeditionen in das unerforschte Gebiet zwischen dem Ussuri und dem Stillen Ozean. Auf diesen und zahlreichen kürzen Expeditionen, bei denen er sich als Geologe, Zoologe, Botaniker, Topograf, Ethnologe und Sprachforscher betätigte, trug er immenses wissenschaftliches Material zusammen. Er verfasste mehr als sechzig Werke über den Fernen Osten Russlands. Ihm war wohl schon bewusst, dass er eine Welt erforschte, die dem Untergang geweiht war: Die 1897 eröffnete Strecke der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok, die die Erforschung überhaupt erst möglich machte, veränderte diese Region für immer.
Auf seinen Expeditionen arbeitete Arsenjew mit verschiedenen einheimischen Führern zusammen. Dersu Usala, dem er 1902 begegnete, begleitete ihn zwischen 1906 und 1908. Das Gebiet war nach dem Russisch-Japanischen Krieg u.A. von den Japanern besetzt und wurde nach den Wirren des Ersten Weltkriegs 1922 Teil der Sowjetunion. Arsenjew konnte zunächst seine Forschungen fortführen, was ziemlich ungewöhnlich war für einen ehemaligen zaristischen Offizier. Doch als er 1930 starb, war der Haftbefehl gegen ihn schon ausgestellt. Seine Frau wurde 1938 als "japanische Spionin" erschossen, Arsenjews umfangreiche Archive wurden geplündert. In den 1940er-Jahren folgte die Rehabilitation, und seit der Wiederveröffentlichung seines Berichts über die Expeditionen mit Dersu Usala 1949 ist er zu einem Klassiker geworden.