Ludovico Ariost: "Orlando Furioso"
(Hörspielrezension)
Episches Renaissance-Pasticcio mit Gegenwartsbezug
Die Naturalie: "Orlando Furioso", Literaturhörspiel mit altitalienischer
Dramaturgie. Das Problem: Ohne populären Anreißer im Jetzt schwer servierbar.
Das Rezept: Gegenwartsbezug herstellen!
Ein Fall für die Werbeabteilung von "Randomhouse", welche alsdann mit ritterlicher
Schneid zugeschlagen hat. Die Vorderseite der CD-Schutzhülle ziert eine schützbedürftige
nackte Maid, an den Felsen gekettet, verzagter Blick nach oben, unten von einem
Meeresungetüm bedroht. Hinterrücks prangt in geschwungenen Lettern: "Der
Ursprung aller Fantasy-Epen" respektive "Der Stoff, aus dem 'Der Herr
der Ringe' geschmiedet wurde!". Wer sich daran macht, das Kleingedruckte
im Begleitheft zu studieren, stößt bald noch auf einen Querverweis zum Zauberhelden
"Harry
Potter". Offensichtlich soll der Rasende Roland die Verkaufszahlen
mithilfe von Master Tolkien und Mistress Rowling rasant ankurbeln. Primäres
Zielpublikum: Zur Jungfrauenrettung willige Männer mit stets wiederkehrenden
Symptomen heroischen Übermuts. Der Rezensent fühlte sich angesprochen ...
"Ich will euch berichten von kühnen Frauen, von Rittern und von ihren
Heldentaten, von ihren Liebesgluten, von ihren Waffen, und auch von ihrer
Torheit. Berichten will ich von den fernen Zeiten, wie die Welt sie damals
schaute ...", leitet der Erzähler das Epos ein. Es ist eine Zeit, in der
das Frankenreich Kaiser Karls des Großen von Algeriern und Sarazenen bedroht
wird. Die muslimen Heere unter dem Banner des
Propheten sind drauf und dran, das
christliche Abendland zu überrennen: Spanien, die Provence, bald schon stehen
sie vor Paris.
Die beiden Paladine des Kaisers, Orlando und Rinaldo, fechten hingegen Kämpfe
ganz anderer Natur aus - auf dem Schlachtfeld der Liebe. Beide sind in
Angelica, Prinzessin aus Cathay (= China), verliebt. Karl hat sie in Obhut des
Bayernherzogs gegeben. Derjenige von seinen beiden besten Rittern soll sie zur
Frau bekommen, der sich im Krieg gegen die Moslems mehr bewehrt. Angelica will
kein Faustpfand sein, sie flieht. Ihr Herz gehört zudem nur Orlando ganz
allein. Als Rinaldo ihren Weg kreuzt, sucht sie erneut das Weite. Der Erzähler:
"Als Ursache muss ich euch zwei Quellen nennen, deren Wasser gegenteilig
sind. Die erste Quelle füllt mit Liebe heiß den Mut. Wer von der anderen
trinkt, bleibt unberührt und kalt von Liebesglut. Rinaldo trank aus jener, und
die Liebe packte ihn. Angelica trank aus der anderen, sie flieht und hasste ihn".
Angelica begegnet einem Eremiten, der sie zum Meer begleitet. Die Prinzessin
will heim nach Cathay. Aber der Alte hat andere Pläne, er betäubt sie und
versucht sie mit Gewalt zu nehmen. So sehr der Greis sich müht, seine
Manneskraft versagt - von Ariosto amüsant in Verse verpackt. Schließlich
wird die schlafende Prinzessin von Seeleuten entführt und zur Insel Ebuda
gebracht, vor der ein noch grausameres Schicksal ihrer wartet.
Rinaldo verschlägt es nach Schottland und Wales, wo er mit Hilfe des Erzengels
Michael und des "Schweigens" ein Heer aushebt, das Karl im Krieg zur Seite stehen
wird. Ganz nebenbei rettet er die Königstochter Ginevra aus einer tödlichen
Intrige und führt sie ihrem Geliebten Ariodante zu. Fast schon feministisch
sinniert er über Treuebruch im Allgemeinen: "Wie kommt's, dass es für die
Frauen Verbrechen ist, was wir beständig tun?" Orlando hingegen irrt - auf
der Suche nach Angelica - durchs ganze Frankenreich. Sein Verstand verabschiedete
sich zum Mond, von wo ihn sein getreuer Freund Astolfo später zurückbringen
wird. Der Erzähler voll Mitgefühl: "Was kann ein Herz noch tun, wenn es erst
Amors Beute ist?"
Neben der ménage à trois Angelica, Orlando, Rinaldo misst Ariosto Rinaldos
Schwester, Bradamante, der Gräfin von Marseille, große Bedeutung zu. Auch sie
ist auf der Suche: Nach ihrem Geliebten, Ruggiero, einem stolzen Moslemhelden,
von Freund und Feind gleichermaßen geachtet. Er wurde entführt vom mächtigen
Zauberer Atlante. Dieser würde einem der "Astronautengötter" Erich von Dänikens
alle Ehre machen: Er wohnt auf einer Bergspitze im Kastell aus Erz, aus dem es
raucht und dampft. Auf den Schwingen eines Hippogriffs (halb Pferd, halb Greif)
fegt er durch die Lüfte, in Metall geschürzt, mit einem blendenden Schild, der
jeden Gegner niederstreckt. Doch amor vincit omnia, Bradamante überwindet
Atlante: Mit der Kraft der Liebe zu Ruggiero, mit ein bisschen Tücke, und durch
die Magie eines verzauberten Ringes. Doch der Triumph währt nur kurz. Der
Hippogriff entschwindet mit Ruggiero zur Insel der Verführerin Alcina. Diese
Fee hat "zwei schwarze mitleidsvolle Augen", Zähne "aufgereiht
wie Perlenketten" und Lippen von Zinnober, "wenn sie sich öffnen,
machen sie die Welt zum Paradiese". Unser Held ist betört, und nach dem
feierlichen Mahle geht es in die Kemenate, wo die Schöne erst auf sich warten
lässt. Doch dann "umschlingt Ruggiero sie wie Efeu". Frivol verrät
Ariosto: "Alcina trägt nicht Reifrock und nicht Mieder, nur ein Hemdchen
um die Glieder". Der Rest ist anstandsvolles Schweigen ... Spät, aber
doch wird Ruggiero gewahr, dass er Blendwerk aufgesessen ist. Alcinas wahres Ich
ist das einer alten Hexe, ihre Liebhaber verwandelt sie der Reihe nach in Bäume.
Ein ganzes Wäldchen gibt es schon. Natürlich gelingt die Flucht aus den Fängen
der bösen Zauberin.
Bradamante geht ebenfalls in die Falle. Sie fällt in eine tiefe Grube. Glück
im Unglück, führt diese zur Höhle der Melissa, der Hüterin von Merlins
Orakel. Der Geist des großen Magiers verheißt Glanz und Glorie. Bradamantes
und Ruggieros Nachkommen werden einst Italien und die Welt beherrschen, das alte
Blut der Trojer wird neu erwachen.
Ruggiero, wieder auf den Schwingen des Hippogriffs, verschlägt es nach Ebuda,
wo die nackte, an den Fels gekettete Angelica gerade dem Meeresungeheuer Orca
geopfert werden soll. Der wackre Ritter kann das Monstrum nicht töten, wohl
aber Angelica befreien. Kaum auf festem Grund gelandet, möchte er die Rettung
mit einem Liebesdienst vergolten wissen. Während er sich noch aus der Rüstung
zwängt, entwendet ihm die Prinzessin den magischen Ring, der unsichtbar macht,
und entflieht. Mittlerweile findet auch Orlando nach Ebuda, wo er den Orca
besiegt und seine irischen Verbündeten den Barbaren der Insel das Garaus
bereiten. Doch wieder kommt der Rasende zu spät. Statt Angelica findet er nur
Olympia vor, die zum nächsten Opfer auserkoren gewesen war.
Lange noch lässt Ariosto die Irrnisse und Wirrnisse weitergehen. Arabien,
Jerusalem, Paris, Mond und Himmel werden zu Nebenschauplätzen, ehe alle Wege
doch zusammenführen. Man kann seinen "Orlando Furioso" als würzig
geköcheltes Pasticcio verschiedener Epen betrachten. Neben dem "Rolandslied"
kommt vor allem Homer zum Tragen: Ruggiero gleicht dem windigen Odysseus,
Angelica trägt Züge der Penelope, Alcina ist eine Spielart der
Circe,
Bradamante eine Amazone. Auch höfische Minne ist beigemengt: In Orlando tritt
die "reine Torheit" eines Parzival hervor, Ginevra (= Guinevere), Ariodante
(eine Art von Lanzelot) und Merlin wiederum stammen aus dem Artuskreis.
Warum das kunterbunte Gemenge? Hatte Ludovico Ariosto (1474-1533) etwa keine
eigenen Ideen? Doch, die hatte er gewiss, nur musste er sie an die Anfordernisse
seiner Umgebung anpassen. Ariosto stand als Sekretär im Dienst des Kardinals
Ippolito d'Este, der ihn mit heiklen diplomatischen Missionen betraute. Später
war er Höfling des Herzogs Alfonso. Was eignet sich da besser, als die eigenen
Dienstherrn in einen heroischen Kontext zu setzen, als Nachfahren der Trojaner
und Karls des Großen? Zudem war 1453 Byzanz
in die Hände der Türken gefallen, die fortan eine islamische Expansionspolitik
zu Lande und zur See in Richtung Europa betrieben. Später kam die Glaubensspaltung
der Christenheit durch die Reformation hinzu. Da bedarf es der Rückbesinnung
auf die glorreiche Ritterzeit des Mittelalters, als die Welt noch heil und katholisch
schien. Es bedarf der nachjustierten Prophezeiungen und der verdrehten historischen
Tatsachen - und in einem epischen Gesang wie "Orlando furioso" fällt
beides nicht ins Gewicht. Kunst und Propaganda eng umschlungen.
Um 1504 hat Ludovico Ariosto seine Arbeit am "Orlando furioso" begonnen.
Zwölf Jahre später publizierte er das Werk in einer Fassung aus vierzig Gesängen,
1521 folgte eine überarbeitete Version. 1532 stand schließlich die erweiterte
Endfassung aus 46 Gesängen. Der italienische Autor Italo Calvino (1923-1985)
hat den Stoff nacherzählt. Inwieweit Ariosto weitere Schriftsteller beeinflusst
hat, ist schwer zu verifizieren. Bei J.R.R. Tolkien finden sich einige Elemente
wieder, wie z.B. der magische Ring, der unsichtbar macht oder die Reise zum
Mond ("Roverandom").
In J.K. Rowlings "Harry
Potter und der Gefangene von Askaban" treffen wir erneut den
Hippogriff. "Orlando furioso" als den "Ursprung aller Fantasy-Epen"
zu sehen, ist nach Meinung des Rezensenten allerdings weit überzogen. Denn
"Ilias", "Odyssee",
"Edda", "Nibelungenlied" oder
Artus-Legenden waren nicht nur zeitlich vorher da, sondern genießen zudem
weithin eine wesentlich größere Bekanntheit.
Das soll den Wert der vorliegenden Hörbuchedition über den Rasenden Roland
allerdings nicht schmälern. Die Sprecher sind allesamt sehr gut, vor allem die
vielseitige Künstlerin Meret Becker sticht als Bradamante hervor. Durch die
Orchesterstücke wird ein glaubhaftes musikalisches Zeitgefühl für das 16.
Jahrhundert generiert. Gewöhnungsbedürftig, aber interessant, klingt die
Falsettstimme eines Kontertenors, die zwischen den Kapiteln immer wieder
anklingt; wenngleich dies allerdings weniger an die Renaissance, als an die
Kastratenopern des Barock erinnert. Den modernen Kontrapunkt zum historischen
Rahmen bilden das als Hintergrundgeräusch wahrnehmbare
Schreibmaschinengeklapper oder Ritterturniere, die an Sportreportagen erinnern. Die politische Rhetorik und
Metaphorik von den Türkenkriegen bis zum aktuellen Irakfeldzug scheint ähnlich
geblieben, das lyrische Element allerdings entschwunden zu sein. Wo ist Orlando,
den Amors Pfeile weit mehr kümmern, als die Krummsäbel der Sarazenen?
(lostlobo; 03/2005)
Ludovico Ariost: "Orlando Furioso"
Random House Audio, 2004. 6 Audio-CDs, mit Begleitheft. Laufzeit: etwa 360 Minuten.
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Schade, dass kaum einer Ariosts Meisterwerk kennt! Der Grund liegt auf der Hand:
gerade die virtuosen Verse sind es, die jedem Zuhörer süß ins Ohr rinnen -
aber wer traut es sich heute noch zu, seitenlang solche betörenden Stanzen zu
lesen? Italo Calvino ist es, der uns ebenso sanft wie entschlossen an die Hand
nimmt und durch die Fabelwelt des Orlando furioso führt. Er kann das, weil er
ein geborener Erzähler ist, weil er auf seine Art ebenso zaubern kann wie
Ariost.
Es ist ein fantastischer Kosmos, der sich so erschließt. Auf den ersten Blick
geht es um den Kampf zweier Kulturen: Ein islamisches Heer steht vor den Toren
von Paris, und die christlichen Ritter verteidigen das Abendland. Aber der Autor
nimmt den Glaubenskrieg, der zu seiner Zeit schon vier Jahrhunderte zurückliegt,
nicht besonders ernst.
Er erzählt ein Märchen, in dem, neben
Magiern,
Feen und
Monstern die streit-,
abenteuer- und liebessüchtigen Menschen seiner eigenen Zeit die Hauptrolle
spielen. Das alte Ritterwesen existiert nicht mehr. Egoisten sind es, Verrückte,
Einsame, die sich mit der Anarchie und dem Chaos der Renaissance herumschlagen.
Die Handlung wuchert, verzweigt sich, irrt im Zickzack umher. So entsteht ein
grandioses, farbenprächtiges Panorama "ein Universum für sich, in dem man
kreuz und quer umherreisen und sich verlieren kann."
Auch heute noch können viele Italiener zumindest die Anfangsverse von Ariosts
Meisterwerk auswendig rezitieren, aber nur wenige kennen das Epos in toto. (Eichborn)
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