António Lobo Antunes: "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht"
Stationen einer Aufarbeitung -
die Fantasie als sichere Heimstätte
"No princípio Deus criou o céu e a terra. A terra achava-se vazia, as
trevas cobriam o abismo e o vento de Deus girava sobre as águas. Então Deus
disse: ' Existe a Luz' e assim se cumpriu. Deus viu que a luz era boa, apartou-a
das trevas, chamou à luz ' dia' e às trevas ' noite' . Houve uma tarde e uma
manhã: primeiro dia...."
So beginnt António Lobo Antunes sein Werk im Original.
Zu Deutsch also: "Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war
wüst und leer, und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte
auf dem Wasser. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott
sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und
nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der
erste Tag."
Ein brillanter Anfang - nicht wahr? -, handelt es sich dabei doch um die ersten
Zeilen des 1. Kapitels der Genesis (Altes Testament). Und auch wenn im weiteren
Verlauf den einzelnen Kapiteln Abschnitte aus der Schöpfungsgeschichte
vorangestellt werden und ein Kreuz an einem
Rosenkranz,
das die Mutter der Erzählerin in Stresssituationen zwanghaft knetet und küsst,
auftaucht - es ist keine spezifisch christlich angehauchte Geschichte die erzählt
wird, wenngleich Begriffe wie "Sünde" und "Ehebruch"
gezielt eingesetzt werden.
Das Biotop, von dem aus
Maria
Clara, von ihrer Mutter als "der Mann im Haus" bezeichnet,
das Stilleben aus vorhandenen Personen, Motiven, Symbolen und Gegenständen
unermüdlich mit hartnäckig-ausufernder Fantasie umgruppiert und auf diese
Weise allerlei (un-?)mögliche Varianten der Familienhistorie erschafft, setzt
sich u.A. aus folgenden Einzelkomponenten zusammen: dem Vater Luís Filipe, der
Mutter Amélia von nobler Herkunft, (die, einander in ewiger Lieb- und
Lustlosigkeit ausgelieferten, Eltern werden mit "Sie" angesprochen),
der eitlen, beliebteren Schwester Ana Maria, der spielsüchtigen Großmutter,
einem blinden Großvater, der Hausangestellten Adelaide nebst Levkojen, einem
Schaukelstuhl, einem Holzpferd, zwei Schlüsseldrehungen, Armeleutegeruch,
alten, mit Fotografien, Briefen und allerlei Erinnerungsstücken angefüllten
Schränken und Truhen im heimlich durchstöberten Dachboden des Anwesens.
Die eigenwilligen Szenarien werden in Form eines (fiktiven?) durchgehenden Gespräches
- und sei es im Zweifelsfall über weite Strecken lediglich ein schildernder
innerer Monolog - dargestellt, was die zerfahrenen Sätze, die endlosen Aufzählungen
erklären mag, wobei sich im neunzehnten Kapitel folgende, (vielleicht
aufschlussreiche), Passage findet:
"Von der Arbeit meines Vaters weiß ich nichts und will ich auch nichts
wissen: was ich Ihnen das letzte Mal gesagt habe
Sie nennen das Sitzungen, das heißt fünfundvierzig Minuten Schweigen zweimal
in der Woche, hin und wieder eine Frage, nie eine Meinung, eine Frage und
Notizen auf dem Block, was ich Ihnen das letzte Mal gesagt habe, war nur ein
Scherz, ein Ausrutscher, meine Mutter ist nicht so, meine Schwester ist nicht
so, oder sie sind es und zugleich nicht, und wenn ich weg bin, können Sie ja
die Wahrheit von der Lüge trennen und es dann verstehen, ..."
Als Rahmenhandlung, (soweit man davon ausgehen kann/darf/soll/, dass zumindest
dieser Anknüpfungspunkt innerhalb des dargestellten Gefüges real ist), wird
der Spitalsaufenthalt des Vaters, eines internationalen Waffenhändlers
(Schmugglers?), geboten. Die oft und gerne bedienten Klischees der Rivalität
zweier Schwestern um die Gunst der strengen Eltern im Allgemeinen und des
unnahbaren Vaters im Besonderen prägen auch dieses Werk. Bisweilen meint man
gar, die Ideensammlung zur fernsehgerechten Umsetzung einer wüsten Familiensaga
aus der Feder eines us-amerikanischen Drehbuchautors der 1980er-Jahre in Händen
zu halten und erinnert sich aufgrund von Aussagen wie "Ist der Vater
meines Vaters dein Vater Adelaide?" oder "Ist mein Vater dein
Sohn Adelaide?" mit gemischten Gefühlen an die verworrenen
Verwandtschaftsverhältnisse in diversen Endlosfernsehserien.
Maria Claras Neugier und Fantasie erhalten durch die verächtlichen Aussagen der
übrigen Familienmitglieder hinsichtlich der Abstammung ihres Vaters, ("Dein
Vater hatte nie eine Familie", "Dein Vater hat keine Familie
als wir uns kennengelernt haben hatte er schon keine Familie"), Antrieb
und Nahrung. Die junge Frau wittert versteckte Zusammenhänge und nützt die
krankheitsbedingte Abwesenheit des Vaters dazu, heimlich in dessen persönlichen
Habseligkeiten, die er in seinem Refugium (dem Dachboden) der großbürgerlichen
Villa in Estoril hütet, zu wühlen und anhand vergilbter Fotografien und
Ansichtskarten, deren verblichene Aufschriften sie zu entziffern sucht,
Familiengeheimnisse und Zweige des Stammbaumes regelrecht zu erfinden. Auf diese
Weise konstruiert Maria Clara abenteuerliche außereheliche Affären und darüber
hinaus prominente wie auch geheimgehaltene Vorfahren, deren schemenhafte
Fantasiegestalten bisweilen die Illusion hervorrufen (wollen?), tatsächlich
existiert zu haben.
Kritisch anzumerken ist aus meiner Sicht, dass dem Leser ein Auflauf aus
Novellen-Keimsprossen vorgesetzt wird, was für sich genommen noch keinen
abgerundeten Lesegenuss ergibt. Wenn ein Schriftsteller fortgeschrittenen Alters
versucht, einerseits Gedankengänge einer sich unverstanden fühlenden jungen
Frau zu spinnen und andererseits ein Märchenschloss aus glitzernden
Traumimitationen zu bauen, birgt dies mit Sicherheit das Risiko einer Notlandung
im Niemandsland allzu beliebiger Projektionen sowie einer Überlastung des
Geschichtengespinstes. Weder Idee noch Machart
rechtfertigen meines Erachtens eine derartige Seitenanzahl!
Freilich gibt es auch Stimmen die meinen, dass aus ebendiesem Neben- und Übereinander
der verschiedenen Persönlichkeiten ein faszinierendes Tableau von Gefühlen und
Erinnerungen, ein facettenreiches Bewusstseinslabyrinth, das mit Worten etwas
darzustellen sucht, das vor den Worten da war; ein Mosaik aus vielen möglichen
Wahrheiten, ein Buch, das sich zwischen den Polen Schöpfung und Tod bewegt,
entstehe.
Und tatsächlich: Ab dem dreißigsten Kapitel liest sich "Geh nicht so
schnell in diese dunkle Nacht" etwas weniger sperrig. Spätestens ab dieser
Stelle wird nämlich deutlich, dass Maria Clara, inzwischen 28 Jahre alt, unglückliche
Ehefrau und Mutter eines Sohnes, aus einer zeitlichen Distanz von mehr als zehn
Jahren auf einen bedeutungsvollen Lebensabschnitt zurückblickt. (Nach dem Tod
des Vaters musste die Familie die Villa verlassen, gewisse traumatisierende
Erlebnisse, die dankenswerterweise der Vorstellung des Lesers überlassen
bleiben, dürften überdies Maria Claras Abneigung gegen zwischenmenschlichen Körperkontakt
und ihre Unfähigkeit, Liebe zu empfinden ins Krankhafte gesteigert haben, was möglicherweise
die Therapiesitzungen beim Psychologen erklärt.)
Der ausgebildete Psychiater Antunes bewegt sich also nicht unbedingt auf dünnem
Eis, kann er doch mit Sicherheit auf derartige Befindlichkeitsberichte
(Konglomerate aus subjektiven Wahrnehmungen, unterdrückten Aggressionen und
Neurosen aller Art) ehemaliger Patienten zurückgreifen, wobei ihm jedoch
niemals seine vornehme Ausdrucksweise abhanden kommt, die sich damit begnügt,
schlüssige Andeutungen zu formulieren.
Die solcherart geballte Ladung an Lektüre setzt allerdings neben einem hohen
Grad an analytischem Interesse eine beinahe schwammartige Aufmerksamkeit des
Lesers voraus. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die einfühlsame Übersetzung;
eine, in diesem Fall bestimmt besonders anspruchsvolle Tätigkeit!
"Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht" variiert übrigens den
Titel eines Gedichtes von
Dylan
Thomas ("Do Not Go Gentle into that Good Night"), das an
dieser Stelle Platz finden mag:
(kre)
António
Lobo Antunes: "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht"
(Originaltitel "Não Entres tão Depressa Nessa Noite Escura")
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
btb, 2004.
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