António Lobo Antunes: "Was werd ich tun, wenn alles brennt?"
"Ich
bin du, und du bist ich; wo du bist und in allen Dingen finde ich mich
verstreut. Wo auch immer du dich befindest, wirst du mich finden: Und
indem du mich findest, findest du dich selbst." (Epiphanie in "Hair")
Ein atemloser, rasanter Roman
voll schmerzlicher Erinnerungen. Nicht erzählt sondern
halluziniert, herausgespieen voller Wut, Selbstzweifel, Derbheit und
Sehnsucht. Gedankenfetzen machen sich selbstständig, werden zu
Wörtern, zu Sätzen, zu Tiraden, aber auch zu
versöhnlichen Gesten. Immer schwingt die Sehnsucht nach
Geborgenheit mit, die verzweifelte Suche nach Identität und
die Frage: Wer war Carlos wirklich?
Um diesen Carlos dreht sich der
eigenwillige Roman. War er Vater, Ehemann oder ein begnadeter
Transvestit. Jedenfalls war er derjenige, der offen seine sexuelle
Neigung mit Rui, einem drogensüchtigen Draufgänger,
lebte und als Drag Queen eine Berühmtheit des Lissabonner Nachtlebens war. Seine
Familie fühlte sich durch diese Lebensweise kompromittiert und
permanent einem Chaos aus eigenen Gefühlen, Nichtverstehen und
Identitätskrise ausgesetzt. Der Roman beginnt mit dem Tod Carlos' und seines Lebensgefährten, die sich beide aus
unterschiedlichen Motiven für den Freitod entschieden haben.
Paulo, der drogensüchtige Sohn, erleidet einen hysterischen
Lachanfall, als er den Vater als biederen Mann zurecht gemacht in der
Aufbahrungshalle vorfindet. Doch auch der Tod vermag es nicht, Ruhe in
das Leben der Angehörigen zu bringen, denn sogleich taucht die
Frage auf, welcher Name nun eigentlich auf dem Grabstein zu stehen
habe: Carlos oder Soraia, der Künstlername.
Stimmen Familienangehöriger und Freunde überlagern
sich, Perspektiven wechseln rasch - oft ein großes Wirrwarr
-, Gesagtes wird sofort wieder in Frage gestellt, und nur ganz selten
finden sich Splitter von Klarheit und Struktur. Von Judithe, der
alkoholkranken Ehefrau, werden in erster Linie Vorwürfe
geäußert und eine große Distanz zu ihrem
Sohn, dem Sohn "einer Schwuchtel", wird erkennbar. Für Paulo
steht die Frage, ob Carlos tatsächlich sein Vater war, im
Vordergrund und dieser krasse Zwiespalt seiner Kindheit - einerseits
einen Vater außerhalb der Konventionen zu haben, andererseits
das Aufwachsen bei spießigen Pflegeeltern und letztendlich
das Abtauchen in die Drogensucht.
Wer einen nachvollziehbaren Handlungsablauf sucht, wird bitter
enttäuscht. Wer sich aber einlassen kann auf diese sehr
ungewöhnliche Art zu erzählen, findet sich bald in
einem dichten Netz von gefühlsbetonten wie auch unvereinbaren
Beziehungen, aus dem ein Entrinnen kaum möglich ist. Der Leser
versucht zu entwirren, auseinander zu halten, Tendenzen zu erkennen -
und erkennt doch ganz klar, dass die Frage: "Was werde ich tun, wenn
alles brennt?" unbeantwortet bleiben muss.
(Margarete Wais)
António
Lobo Antunes: "Was werd ich tun, wenn alles brennt?"
(Originaltitel "Que Farei Quando Tudo Arde?")
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
btb, 2004. 704 Seiten.
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Ergänzende Buchtipps:
António Lobo Antunes: "Einblick in die Hölle"
1973 kehrte Lobo Antunes aus dem Krieg in Angola
zurück, wo er als Militärarzt über zwei
Jahre lang schlimmstes Leid und Elend sah - und doch hat ihn nichts
darauf vorbereitet, was er nun als Psychiater in der Irrenanstalt
Miguel Bombarda erlebt. Erst hier bietet sich ihm ein "Einblick in die
Hölle". Auf der Fahrt von der südlichen
Algarveküste, wo er einen ärztlich verordneten Urlaub
verbrachte, zurück nach Lissabon versucht er sich
darüber klar zu werden, was passiert ist. Als Kind schon
wollte er Psychiater werden, um die Erwachsenen besser zu verstehen,
aber von Verständnis ist er weiter entfernt denn je.
Abgrundtiefer Hass erfüllt ihn: auf die
Ärzte,
die den Kranken
jede Würde nehmen, sie mittels Elektroschock und Insulinkoma
still stellen, statt ihnen zu helfen. Und Hass auf sich selbst, weil er
sich angepasst hat. Einen Tag und eine Nacht lang fährt er
durch Portugal, von der Küste durch die Berge und
Dörfer des Alentejo zu den Sümpfen vor der
Hauptstadt, und die Erinnerungen an die Klinik, an den Krieg, an seine
gescheiterten Beziehungen zu zwei Frauen, an seine beiden
Töchter stürmen immer ungeordneter auf ihn ein,
vermischen sich mit den Gerüchen, Farben und Formen der
Landschaft, bis die Grenze zwischen Realität und wahnhaften
Gewaltvisionen verschwimmt.
In seiner metaphernreichen und drastischen Sprache klagt Lobo Antunes
die Unmenschlichkeit des Menschen an und evoziert zugleich ein Sein
jenseits des Elends. Denn sein Hass speist sich aus einer unendlichen
Liebe zu seinem Land und den Menschen. (Fischer)
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"Der Archipel der Schlaflosigkeit"
Ein Landgut in Trafaria, südlich von Lissabon, auf der anderen Seite des Flusses
Tejo: Hier leben, über ein halbes Jahrhundert lang, drei Generationen einer
portugiesischen Familie, gefangen im Würgegriff des patriarchalischen
Großvaters, vor dessen tyrannischer Herrschaft es für sie fast kein Entrinnen
gibt.
Der Roman beginnt mit der Beerdigung des Großvaters, der das Gut vor Jahrzehnten
gegründet und es mit äußerster Kälte, Rücksichtslosigkeit und Gewalt zu
wirtschaftlicher Blüte geführt hat. Eine gefühlslose Gier, sowohl in materiellen
wie in sexuellen Dingen, prägt ihn bis ins hohe Greisenalter. Er ist gewohnt,
sich einfach zu nehmen, was er begehrt, er unterdrückt und betrügt seine Frau,
und er verachtet seinen Sohn und seine Enkel, die er für Idioten und
Schwächlinge hält. Zusammen mit seinem ebenso gefürchteten Verwalter und mit
Unterstützung auch des Priesters herrscht er über das Gut und seine Bewohner mit
harter Hand. Gleichwohl verfällt das Gut über die Jahre unaufhaltsam. Und erst
als sein jüngster Enkel auf das Erbe verzichtet und alles daransetzt, wenigstens
seinen Bruder zu retten, scheint der Teufelskreis aus Unterdrückung und Angst
durchbrochen zu werden.
"Der Archipel der Schlaflosigkeit" erzählt eine Geschichte von der
Allgegenwärtigkeit archaischer Gewalt. Im Mittelpunkt stehen die Themen, die das
Werk dieses vielleicht größten portugiesischen Autors unserer Zeit bis heute
prägen: der Aufstieg und Niedergang des Landes und seiner Menschen und die
Frage, wie es dazu kommen konnte, der Schrei nach Liebe und menschlicher Wärme
und die Suche nach dem Sinn unserer Existenz in einer grausamen Welt, in der
selbst Gott, wie es scheint, den Menschen nicht mehr helfen kann. (Luchterhand
Literaturverlag)
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María Luisa Blanco: "Gespräche mit António Lobo Antunes"
Mit zahlreichen Fotos aus dem Familienalbum des Autors.
In zwölf Gesprächen öffnet sich der
berühmte portugiesische Autor den Fragen von María
Luisa Blanco. Mit nie gekannter Offenheit erzählt Lobo Antunes
von seiner Kindheit, der Liebe, seinen Freunden und Beziehungen, seiner
Einstellung zu Gott, zum Tod, zur Familie, seinen literarischen
Vorlieben und Abneigungen. Zentrale Themen, die diese
Gespräche umkreisen, sind der Krieg in Angola und die
Bedeutung von Sprache und Schreiben. Eine einzigartige
Möglichkeit, diesen weltweit anerkannten Autor und sein Werk
kennen und verstehen zu lernen.
María Luisa Blanco hat
Philosophie
studiert. Als Journalistin war sie immer im kulturellen Bereich
tätig, leitete von 1998 bis 2001 den Kulturteil der
Zeitschrift "Abc" und ist gegenwärtig Feuilletonchefin der
spanischen Tageszeitung "El País".
António Lobo Antunes wurde 1942
in
Lissabon geboren. Er studierte
Medizin,
war während des Kolonialkrieges Militärarzt in Angola
und arbeitete danach als Psychiater. (Luchterhand)
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