Friedrich Ani: "Gottes Tochter"
"Er war ein Mann, in
dessen Vorstellung der Selbstmord keine Tür war, die sich öffnete, sondern eine,
die sich schloss. Er war Polizist, der aus Gründen diesen Beruf ergriffen hatte,
die ihm heute seltsam und unbedeutend erschienen und ihn, wenn er in einer jener
katastrophalen Nächte in seinem gelben Zimmer darüber nachdachte, zwangen sich
zu fragen, warum er nicht seine Dienstwaffe, die er nie benutzte, aus der Schublade
holte, den Lauf zwischen die Zähne steckte und abdrückte. [...]
"Schneller, Julika, schneller!"
"Die Tasche ist so schwer."
"Ich helf dir, warte"
"Der Zug fährt gleich ab!"
"Such du die Gleisnummer raus!"
"Hab ich doch schon!"
"Und wenn die Polizei mich was fragt?"
Julika aus München
lebt bei ihren wohlhabenden Eltern. An ihrem achtzehnten Geburtstag verlässt
sie die Wohnung und taucht nicht mehr auf. Ihr Vater zeigt die "Vermissung"
an, Kommissar Süden von der Vermisstenabteilung soll sie schnellstmöglich wieder
heimbringen. Doch Julika ist jetzt volljährig, sie kann tun und lassen, was
sie will und auch leben, wo sie will. Und sie will nicht zurück zu ihren Eltern,
das stellt sie eindeutig klar. Trotzdem gelingt es ihrem Vater, Polizei und
Fernsehen in Bewegung zu setzen und herauszufinden, dass Julika in Rostock ist.
Rico ist zweiundzwanzig
und lebt noch bei seiner Mutter in einem Rostocker Plattenbau. Eines Abends
steht Julika vor der Tür, Julika, die er vor ein paar Wochen an einem Abend
getroffen hat. Rico hat eine ABM-Stelle, die bald ausläuft, und wie Julika eine
Vergangenheit, doch die ist nicht wohlbehütet. Rico war als Jugendlicher dabei,
als ein Asylbewerberwohnheim brannte, er war dabei, als sich ein Vietnamese
aus dem Fenster stürzte und verblutete.
Zusammen besuchen
Julika und Rico die Verlobungsfeier von Juri und Ale. Auch die beiden waren
vor Jahren dabei, als der Vietnamese starb. Und als das Schiff, auf dem Verlobung
gefeiert wird, brennt, Ale dabei stirbt, holt die Vergangenheit Rico wieder
ein, und auch Julika stellt fest, dass man nicht so einfach entfliehen kann.
Eigentlich ein Krimi,
aber einer abseits von den üblichen Krimiklischees. Kommissar Süden ist nicht
bei der Mordkommission, sondern für Vermissungen zuständig, ein "richtiger" Mord
passiert nicht, und das Buch handelt eher von verschiedenen Leben in Deutschland
Ost und West, den Vorurteilen auf beiden Seiten, selbst die Polizisten sprechen
hüben und drüben die gleiche Sprache und meinen doch ganz Anderes. Seine Spannung
ergibt sich aus den Personen und deren Geschichten, nicht aus einer
Vielzahl
von Morden und reißerischen Szenen mit Verfolgungsjagden und wilden Schießereien.
"Gottes Tochter" ist ein Buch, das auch Krimiliebhaber in Bann schlägt. Sicher nicht
"das" Buch zur deutschen
Wiedervereinigung - als ob ein einziges Buch dazu genügen würde! -, aber eines
davon.
Dass der Verlag es
als "Romeo und
Julia im heutigen Deutschland" anpreist, mag aus
Vermarktungsgründen
verständlich sein, wird aber weder Shakespeare noch Ani gerecht. Und vielleicht
hält es sogar den einen oder anderen von der Lektüre ab. Letzteres wäre wirklich schade.
(HPR)
Friedrich Ani: "Gottes Tochter"
Knaur.
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