Paul Anderson: "Hungersbräute"
Ein Mammutwerk (auch) über Leben und Werk der mexikanischen Nonne und Dichterin Sor Juana Inés de la Cruz
Dem
Wissenshunger versprochen
Für "Hungersbräute", seinen im Jahr 2005 auf Deutsch
erschienenen Romanerstling, recherchierte der kanadische Weltenbummler
Paul Anderson länger als ein Jahrzehnt. Im Zuge seiner
Nachforschungen durchforstete er bspw. Chroniken der Eroberung und
Geschichten der Inquisition,
Mythen, archäologische Studien
und nicht zuletzt Texte von Juana Inés de la Cruz, von denen
etliche eigens für "Hungersbräute" ins Deutsche
übertragen wurden und solcherart erstmals der
deutschsprachigen Leserschaft zugänglich sind. Das Resultat
ist ein Buch mit mehr als 1400 Seiten, überbordend vor
Detailreichtum, geprägt von einer Fülle an Fakten.
Im Rahmen einer in der Gegenwart angesiedelten Kriminalgeschichte
(vermarktungstaktischer Tribut an den Zeitgeist?) steht das Leben und
Schaffen einer außergewöhnlichen historischen
Gestalt, nämlich jenes der mexikanischen Dichterin Sor Juana
de la Cruz (1648-1695) im Mittelpunkt:
"Universitätsprofessor Donald Gregory hat eine
verhängnisvolle Affäre mit seiner Studentin Beulah
Limosneros, die besessen über die mexikanische Dichterin Juana
Inés de la Cruz forscht. Eines Nachts findet er Beulah
blutüberströmt in ihrer Wohnung und flüchtet
entsetzt, nicht ohne ihre Aufzeichnungen an sich zu nehmen. Aus diesen
Dokumenten erschließt sich die fesselnde Biografie der Juana
Inés de la Cruz: Sie war ein Wunderkind, lernte das
mondäne Leben am Hof kennen und trat 19-jährig,
getrieben von ihrem unersättlichen Wissensdurst, ins Kloster
ein. Sie war gleichzeitig engagierte Vorkämpferin der
Frauenbewegung, Dichterin und Theologin, legendäre
Schönheit und Nonne und trotzte über zwanzig Jahre
der Inquisition, bis sie schließlich vom Klerus zum Schweigen
gebracht wurde und an der Pest
zugrunde ging. Vor dem Hintergrund der vergangenen Pracht Mexikos
entfaltet dieser opulente Roman eine Spannung, die bis zur letzten
Seite in Atem hält." (Klappentext)
Nun eignen sich "zufällig" ergatterte Aufzeichnungen trefflich
als Ausgangspunkt, um ein Netz aus Geschichte, Geschichten und
Schichten zu weben; ein immer wieder gern aufgegriffenes
Gestaltungselement in der Literatur.
Ebenso überraschend wie sein Protagonist, der
Universitätsprofessor Donald Gregory, fand Paul Anderson den
faszinierenden Stoff - bzw. fand dieser den Autor in Mexiko ...
Während also zeitgenössische Kriminalisten im Fall
Beulah Limosneros ermitteln, begutachtet Donald Gregory die ihm in die
Hände gefallenen Aufzeichnungen seiner psychisch labilen,
hochintelligenten Ex-Geliebten, umfangreiches Material, das sie im
Verlauf ihrer Mexiko-Reise zusammengetragen hatte: Tagebücher,
Forschungsaufzeichnungen, nicht abgeschickte Briefe sowie ein
eigenartiges Manuskript, teils Biografie, teils Roman über Sor
Juana, der Beulah Limosneros' ganzes Interesse galt.
Paul Anderson verkettet in weiterer Folge die Lebensgeschichten der
beiden Frauen aus unterschiedlichen Jahrhunderten und Kulturen und jene
des Universitätsprofessors zu einem buchstäblich
barocken Lektüreerlebnis und haucht der Geschichte Leben ein.
Das Leben der Juana Inés de la Cruz, ihres Zeichens
bedeutendste Dichterin Spaniens am Ende des Siglo de Oro, inspirierte
u.a. bereits den mexikanischen Dichter und Essayisten Octavio Paz
(31.3.1914-19.4.1998). Der Literaturnobelpreisträger des
Jahres 1990 publizierte 1982 sein Werk "Sor Juana Inés de la
Cruz o las Trampas de la fé" (dt. "Sor Juana Inés
de la Cruz oder Die Fallstricke des Glaubens", Suhrkamp), das unter der
Regie von María Luisa Bemberg verfilmt wurde ("Yo, la peor
de todas"; dt. "Ich, die Unwürdigste von allen").
Die in einem Bergdorf am Popocatépetl in
ärmliche ungeordnete Verhältnisse geborene Juana
Inés de la Cruz war ein wissenshungriges Wunderkind. Bereits
als Dreijährige konnte sie lesen, bald lernte sie Latein und
befasste sich mit philosophischen und theologischen Texten, Astronomie
und Medizin.
1664 wurde sie an den Palast der spanischen
Vizekönigin, die das Mädchen förderte, in
die Hauptstadt berufen. Aufgrund ihrer Schönheit und
Geistesgaben stieg Juana rasch zum Günstling am
vizeköniglichen Hof auf, wo sie ihre Bildung erweiterte. |
Rosa
Divina 2 (Sor Juana Inés de la Cruz) |
Im
Alter von 19 Jahren trat Juana, mittellos und ohne familiäre
Bindungen, in einen Orden ein. Bei den Hieronymitinnen konnte sich die
kritische junge Nonne, die sich für die Gleichberechtigung der
Frauen in Bezug auf Wissen und Bildung einsetzte, weiterhin ihren
autodidaktischen wissenschaftlichen und künstlerischen Studien
zuwenden, Gäste empfangen und ihre Brieffreundschaften pflegen.
Sor Juana erschrieb sich gewissermaßen einen Freiraum und
mischte sich überdies ins theologische Streitgespräch
ein. "El Sueño" (dt. "Der Traum"), ihre wichtigste Dichtung,
wurde 1685 im Kloster vollendet.
Sor Juana wurde wiederholt von der Kirche wegen ihrer Befassung mit
weltlichen Dingen und des in ihren Werken
unüberhörbaren feministischen Tonfalls ermahnt, sich
ausschließlich mit religiöser Literatur zu
beschäftigen und geriet um 1690 ins Blickfeld der Heiligen
Inquisition. Solange sie unter dem Schutz des Vizekönigspaars
stand, war sie nicht in Gefahr. 1694 (die Amtszeit des
behütenden Vizekönigspaars war abgelaufen) beugte sie
sich allem Anschein nach dem kirchlichen Druck: Sie unterzeichnete ein
Sündenbekenntnis sowie das Gelöbnis, fortan einzig
und allein für Gott zu leben, mit ihrem eigenen Blut. Sie
schwor ihrer Gelehrsamkeit ab, vollzog strengste
Bußübungen, trennte sich von ihren Musikinstrumenten
und Büchern. Im Jahr 1695 fiel Juana Inés de la
Cruz der Pest zum Opfer.
Ihre plötzliche Flucht vom Palast ins Kloster, ihr
Rückzug von der Welt und die Hintergründe ihres
Schweigegelübdes bieten reichlich Interpretationsspielraum -
ein vielversprechender Ansatzpunkt für einen ebenso
fantasievollen wie fleißigen Schriftsteller.
(Franka Reineke; 10/2006)
Paul
Anderson: "Hungersbräute"
(Originaltitel "Hunger's Brides: A Novel of the Baroque")
Pendo, 2005. 1424 Seiten.
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