Karin Alvtegen: "Schatten"


Nur zu gut weiß der nach einem Hirnschlag gelähmte berühmte Schriftsteller Axel Ragnerfeldt, dass es Dokumente gibt, die er längst hätte verbrennen müssen ...

Marianne Folkesson arbeitet seit vielen Jahren als staatlich beauftragte Nachlassverwalterin. Eines Tages, so beginnt der spannende, absolut mitreißende Roman der schwedischen Autorin Karin Alvtegen, hat Marianne den Nachlass einer gewissen Gerda Persson zu regeln. Keine leichte Aufgabe, denn es gibt offensichtlich keine Verwandten. Marianne entdeckt aber nach langer Recherche eine ziemlich geheimnisvolle Verbindung zu Axel Ragnerfeldt, einem berühmten Autor, der vor langer Zeit für ein Werk mit dem Titel "Schatten" den Literaturnobelpreis bekam, völlig zu Unrecht, wie sich später in diesem genial komponierten Thriller herausstellen wird.

Denn Karin Alvtegen erzählt mit viel psychologischem Feingefühl, wie man es von ihr kennt, die Geschichte zweier Ehen. Sie wechselt dabei ständig die Ebenen der Jetztzeit, in der Marianne Folkesson für Gerda Persson ein anständiges Begräbnis organisieren will und deshalb nach Informationen über die Tote sucht, während der berühmte Autor im Altersheim liegt und dort von "Schatten" und seinen Erinnerungen heimgesucht wird. Dieser Wechsel macht einen Großteil des Spannungsbogens aus, der den Leser bis zum Ende in Atem hält.

Da ist zum einen der schon erwähnte Schriftsteller Axel Ragnerfeldt. Er lebt neben seiner ziemlich anspruchsvollen Frau Alice und seiner Haushälterin, (Gerda Persson), in einem riesigen Haus. Er hat sich sehr zurückgezogen, die Lesereisen und die Empfänge sind ihm ein Gräuel geworden. Er befindet sich in einer gewaltigen Krise und bringt nichts mehr zu Papier. Da begegnet er eines Tages einer jungen Frau, der Lebensgefährtin eines Freundes, und erliegt ihren Verführungskünsten. Aus dieser Geschichte entwickeln sich Ereignisse, denen keiner der Beteiligten mehr entkommt. Alle werden schuldig, weil sie ihre eigenen Interessen sowie Bedürfnisse in den Vordergrund schieben und an erste Stelle setzen. Die Figuren in diesem Beziehungsdrama zeigen eine seelische Kälte, die einen frieren macht.

Die zweite Ehe, die beschrieben wird, ist die von Axels Sohn Jan-Erik. Jahrzehnte nach dem Seitensprung seines Vaters, von dem bislang niemand Kenntnis hatte (oder doch?), führt er mit seiner Frau eine ähnliche Beziehung wie sein Vater damals mit seiner Mutter. Vater wie Sohn sind gefangen in der Jagd nach Ruhm, Ansehen und Geld, wobei bei Jan-Erik die Jagd nach frischem Frauenfleisch dazu kommt, das er "benutzt" und kurz danach "wegwirft". Jan-Erik hat sich ein Lebenswerk aufgebaut, indem er vom Ruhm seines Vaters zehrt und in immergleichen Vorträgen vor einem stets begeisterten Publikum in einer geheuchelten Standardrede von den Meriten seines berühmten Vaters erzählt. Nach jedem dieser Vorträge schleppt er eine Frau ab, ist aber innerlich völlig leer.

Marianne Folkesson nimmt nach langer Recherche mit Jan-Erik Ragnerfeldt Kontakt auf, bittet ihn um ein Bild von Gerda Persson, die lange im Ragnerfeldt'schen Haushalt gearbeitet hatte. Als er seinem im Altersheim dahinsiechenden Vater davon erzählt, ist dieser sehr beunruhigt, zu Recht, wie sich zeigt, denn als Jan-Erik im Arbeitszimmer seines Vaters alle von diesem gehorteten Unterlagen, die jener vor seinem Schlaganfall noch ordnen bzw. vernichten wollte, durchwühlt, stößt er auf Briefe, die ein Familiengeheimnis zu Tage bringen, das so ungeheuerlich ist, dass es nur die Spitze eines Eisbergs aus Schuld, Lug und Trug darstellt, welche die ganze Familie in den Abgrund zu reißen droht.
Heftig und zu allem bereit, versucht Jan-Erik, das Schicksal zu wenden, das ihn in die Bedeutungslosigkeit zu schleudern droht, sowie den Ruf seines Vaters, und damit seine eigene Existenz, zu schützen.

Karin Alvtegen hat erneut einen Roman vorgelegt, der es in sich hat. Genaueste Zeichnung ihrer Charaktere, das Ausloten von Versuchung und Schuld sowie die Schilderung der verzweifelten Versuche von Menschen, aus dem einmal gestrickten Netz von Lügen und Betrügerein herauszukommen, sind ihr hervorragend gelungen.
Ein wirklich empfehlenswerter Thriller auf allerhöchstem Niveau.

(Winfried Stanzick; 11/2007)


Karin Alvtegen: "Schatten"
(Originaltitel "Skugga")
Aus dem Schwedischen von Dagmar Lendt.
DuMont, 2007. 350 Seiten.
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