Herbert Schmidt-Kaspar: "Altstadtgassen und Adelshöfe"
Ausflüge in die deutsche Vergangenheit
Zumeist
übersehene Juwelen aus der Zeit der deutschen
Flickenteppich-Landkarte
Im schulischen Geschichtsunterricht lernt man die Jahrhunderte
währende Zersplitterung Deutschlands in wenige große
und schier zahllose kleine Staaten als Hemmnis für die
Entwicklung des Landes kennen. Da protzen Herren über eine
Provinzstadt und ein paar Dörfer nach Möglichkeit wie
das mächtige Vorbild in Versailles und saugen ihre Untertanen
aus, sodass der Fortschritt auf der Strecke bleibt.
Wir Nachgeborenen, so der Tenor des Buchs von Herbert Schmidt-Kaspar,
können diese Unzahl an Ländchen, reichsunmittelbaren
Städten und Stiften und sonstigen Herrschaften jedoch auch als
Reichtum auffassen, denn ihnen verdanken wir eine Fülle von
architektonischen Juwelen, die wir, wäre Deutschland
wesentlich früher ein Nationalstaat geworden, in
Kleinstädten an der Peripherie der Macht nicht antreffen
würden. Auch lohnt es sich, mit dem Autor die Geschichte
solcher Orte kennen zu lernen und auf
außergewöhnliche historische
Persönlichkeiten zu treffen.
Eine Aufzählung der in den einzelnen Kapiteln vorgestellten
Städte und Personen würde zu weit führen -
beispielhaft erwähnt werden sollen Bayreuth und Friederike
Sophie Wilhelmine von Brandenburg-Bayreuth (eine
Schwester des "Alten
Fritz"), Wörlitz mit seinen wunderbaren, vom 1740
geborenen
Fürsten "Vater Franz" gestalteten und finanzierten
Parkanlagen, Lübeck, dessen Schicksal eng mit dem der Hanse
verknüpft war, Essen und die "eiserne Kunigunde", die
über ein einflussreiches Stift gebot, Mainz mit seiner
wechselhaften Geschichte und Ortenburg bei Passau, das dank seinem
sturen Reichsgrafen und einer überzeugten
Bürgerschaft über Jahrhunderte eine evangelische
Enklave im erzkatholischen Bayern blieb.
Die ausgewählten Städte liegen über ganz
Deutschland verstreut. Mancher Deutsche wird einigen von ihnen ad hoc
nicht einmal ihren Platz auf der Deutschlandkarte zuweisen
können, denn sie sind heute - und waren es zu einem guten Teil
auch früher - politisch eher unbedeutend. Doch schon bald nach
der deskriptiven Einleitung weiß der Autor von
erschütternden Ereignissen zu berichten, die der Stadt
entweder den Aufschwung oder den Ruin bescherten, oder von einer
Persönlichkeit, die der Stadt ihren Stempel
aufdrückte. Es sind, wie das Beispiel Wörlitz belegt,
nicht immer prachtvolle Schlösser oder Gotteshäuser,
die diesen Stempel repräsentieren. Verblüffend modern
mutet die Idee des "Vater Franz" an, sich in England und anderen
Ländern Kenntnisse zur Landschaftsgärtnerei
anzueignen und zu Hause einen unkonventionellen Park zu schaffen, der
seinem Volk offen stand und unter anderem auch Nachbildungen von Natur-
und Architekturwundern wie dem Vesuv enthielt - so konnte das Volk
andere Länder kennen lernen, obwohl einfache Leute finanziell
nicht in der Lage waren, zu verreisen.
Und Bayreuth stünde ohne seine oben genannte
Markgräfin allein
unter
dem Zeichen von Richard Wagner; eine
"Perle des Rokoko", wie Reiseführer sie nennen, wäre
die Kleinstadt ohne sie niemals geworden.
Ob man über den einsam im plötzlich bedeutungslos
gewordenen und daher zunehmend verlassenen Wolfenbüttel
lebenden Lessing
liest oder sich mit der langen Geschichte von Trier
befasst: Herbert Schmidt-Kaspar ist der Beweis dafür, dass die
Hinwendung eines Belletristikautors zu Sachthemen für den
Leser ein Gewinn sein kann. Dank seinem großartigen
Erzähltalent wird die Geschichte lebendig, Schicksale
verflechten sich auf verblüffende Weise, etwas Weltpolitik und
Kultur finden ihren Ursprung auch in der Provinz, und
plötzlich beginnt der Leser, den einst irritierend bunten
Flickenteppich auf der deutschen Landkarte vergangener Jahrhunderte als
eine sympathische Bereicherung der europäischen Kultur zu
begreifen.
Der Autor hat eine Fülle an Fakten sorgfältig
zusammengetragen - dass er dann doch Bad Mergentheim von der Tauber an
den Neckar verlegt, wird man ihm gern verzeihen - und zu einem
ausgesprochen charmanten Geschichtsbuch verarbeitet, das dem historisch
und kulturell interessierten Leser die Augen öffnet
für die Nebenschauplätze der Geschichte und ihn
anregt, weitere Stätten dieser Art zu entdecken.
(Regina Károlyi; 07/2007)
Herbert
Schmidt-Kaspar: "Altstadtgassen
und Adelshöfe. Ausflüge in die deutsche Vergangenheit"
dtv, 2007. 279 Seiten.
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Herbert Schmidt-Kaspar, 1929 in Reichenberg/Nordböhmen geboren, lebt seit 1945 in Bayern. Er studierte Deutsch, Geschichte und Englisch in Regensburg und München und war als Lehrer in Niederbayern, München und Beirut/Libanon tätig. Buchveröffentlichungen seit 1958: Romane, Erzählungen, Lyrik.