Peter Altenberg: "Wie ich es sehe"
Nach der Ausgabe letzter Hand (1904) herausgegeben und mit einem Nachwort von Burkhard Spinnen
IDYLLE
Sie sass in der Milchhalle mit ihrer Mutter und trank weiss-gelbe dicke
Milch und ass goldbraunes Landbrod, dichtporiges duftendes mit
Theebutter und Honig.
Es war ein Sommer-Sonntag-Nachmittag.
Um sechs Uhr kam Albert.
Da wurde sie rosig.
Albert bestellte das dichtporige Landbrod mit Theebutter und Honig.
Das junge Mädchen legte die Hand auf seine Stuhllehne und
berührte Ihn leise.
Die Mutter sagte: "Sie sind heute preocccupirt, Albert - -!?"
(Seite 81)
In lose zusammenhängenden Kurztexten evoziert der Wiener
Kaffeehausliterat
Peter Altenberg (1859-1919) Bilder aus seiner Welt: junge
Mädchen auf Sommerfrische im
Salzkammergut,
Fabrikantengattinnen, pseudorevolutionäre Wiener
Bürger, Kaffeehausbesucher und Dirnen. Er schildert intensive
Eindrücke und macht knappe Abdeutungen, "literarische
Pinselstriche", die ganz bestimmte Erinnerungen und Gedanken an
Situationen und Beziehungsnetze hervorrufen. Freilich ist diese
literarische Technik, die den Texten Prägnanz und Leichtigkeit
verleiht, an Leser einer längst verflossenen Epoche, an deren
kollektives Gedächtnis gebunden.
Doch der Herausgeber vertraut - zu Recht - auf kulturhistorische
Kenntnisse und ausführliche Anmerkungen und
schließlich auch darauf, dass die Eindringlichkeit und
Musikalität der Sprache auch gut hundert Jahre später
noch eindrückliche literarische Wirkung zeigen.
Altenbergs Texte entstammen der mündlichen
Erzähltradition im Wiener Kaffeehaus, sind Prosagedichte und
Minidramen und oszillieren zwischen den literarischen Gattungen. Bei
rascher Lektüre wirken sie oberflächlich und
bezugslos, manchmal fad. Man sollte sie laut lesen und deklamieren oder
auch als Hörbuch genießen. Der Herausgeber entschied
deshalb auch richtig, die Orthografie der Texte, ihre eigenwillige
Zeichensetzung und die Kursivstellung betonter Passagen
gegenüber der Originalausgabe nicht zu verändern.
Viele der meist nur zwei, drei Seiten langen
Prosaskizzen beginnen mit
starken sinnlichen Eindrücken - Farben, Gerüche,
Stimmungen. Peter Altenberg ist einer der wichtigsten Vertreter des
Impressionismus. Dann schließen sich knappe Dialoge der zwei
Protagonisten an - häufig eines Mannes und einer oder zweier
Frauen.
Schade ist, dass man Peter Altenbergs Stimme nicht mehr hören
kann; der Herausgeber schreibt, dass es von ihm leider keine
Tonaufnahmen gibt. Doch die erste Neuauflage von "Wie ich es sehe" seit
1928 trägt dazu bei, diesen wichtigen Dichter der Wiener
Moderne zumindest vor geistigen Ohren wieder aufleben zu lassen.
(Wolfgang Moser; 04/2007)
Peter
Altenberg: "Wie ich es sehe"
Manesse, 2007. 459 Seiten.
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Peter Altenberg, als Richard Engländer in Wien geboren, entstammt einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Gesundheitlich labil, führte er das Leben eines Bohemiens am Rande der Gesellschaft, verbrachte seine Tage in Kaffeehäusern und nächtigte in Hotels. Mit "Wie ich es sehe", seinem ersten Buch, das auf Betreiben von Arthur Schnitzler und Karl Kraus bei S. Fischer erschien, hatte Altenberg seine unverwechselbare literarische Form gefunden.